„Sie haben nur noch wenige Monate zu leben.“ Das ist ein Satz, den wohl niemand in seinem Leben jemals hören möchte. Der Überbringer dieser Nachricht ist meist ein Arzt. Eine Person, die sich mit Krankheiten auskennt – und mit der Wahrscheinlichkeit, diese zu überleben.

Dem Pflegereport der DAK aus 2016 zufolge wollen 60 Prozent aller Befragten zu Hause sterben. Der am häufigsten genannte Grund für diesen Wunsch: Die gewohnte Umgebung macht das Sterben erträglicher und würdevoller. Doch die Realität sieht anders aus: 75 Prozent aller Deutschen sterben im Krankenhaus oder Pflegeheim.

Ist eine Krankheit nicht heilbar und so weit fortgeschritten, dass die Lebenserwartung begrenzt ist, haben Patienten hierzulande seit 2007 einen gesetzlichen Anspruch auf eine sogenannte spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Dann kümmert sich ein interdisziplinäres Team aus speziell palliativmedizinisch ausgebildeten Ärzten, Pflegern, Seelsorgern oder Psychologen um die Versorgung des Patienten in seinen eigenen vier Wänden.

Doch es gibt verschiedene Probleme, die den Zugang zu einer SAPV erschweren können:

  • Eine flächendeckende Versorgungssituation ist noch nicht erreicht. In vielen Regionen Deutschlands, insbesondere in ländlichen Gebieten, sind kaum spezialisierte Palliativdienste (SAPV-Teams) zu finden. Bei vielen schwer kranken Patienten wird eine SAPV deshalb gar nicht oder zu spät einbezogen.
  • Es mangelt an ausreichend qualifizierten palliativmedizinischen Ärzten und Pflegefachkräften.
  • Ärzte zögern mitunter, Patienten in eine SAPV zu überweisen, obwohl die Schwerkranken eigentlich davon profitieren würden. Etwa, weil Ärzte überoptimistisch sind und glauben, der Patient könnte doch noch eine Überlebenschance haben. Oder schlicht aufgrund von Zeitdruck.
  • Eine proaktive, möglichst frühzeitige Entscheidung darüber zu fällen, welcher Patient von einer Palliativversorgung profitieren kann, ist komplex, insbesondere für nicht speziell geschultes Personal.

Wie aber entscheidet ein Arzt, welcher Patient von einer SAPV profitieren würde? Und was wäre, wenn es nicht allein ein Mensch ist, der das festlegt – sondern Ärzte durch ein Computerprogramm unterstützt würden?

Der Einsatz und die Weiterentwicklung von algorithmischen Systemen in der Medizin sind kaum aufzuhalten – und machen auch vor dem Tod keinen Halt. Schon jetzt sind Systeme zur Berechnung von Risiken für potenziell tödliche Ereignisse im Einsatz. Zum Beispiel bei Krankenhauspatienten, deren Vitalparameter überwacht werden. Seit einiger Zeit arbeiten Mediziner und Data Scientists auch daran, die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, ob ein unheilbar kranker Mensch innerhalb eines Zeitfensters von etwa einem Jahr stirbt. Zwei Beispiele aus den USA machen derzeit von sich reden:

1. Algorithmus von Aspire Health, ein Startup für Palliativversorgung

Ein Algorithmus, der den Tod von Schwerkranken prognostiziert, wurde von Aspire Health entwickelt. „Wir können sagen, welche Patienten in einer Woche, sechs Wochen oder einem Jahr sterben“, sagte Bill Frist, Mitgründer der von der Google-Mutter Alphabet finanzierten US-Firma 2016 in einem Gespräch mit dem „Wall Street Journal“. Gemeint sind Schwerkranke, die etwa Krebs im fortgeschrittenen Stadium haben oder unheilbar chronisch krank sind.

Das Ziel von Aspire Health: Der Algorithmus soll verhindern, dass die Betroffenen unnötige Behandlungen bekommen. Stattdessen sollen sie mit der Prognose durch den Algorithmus frühzeitig von einer professionellen Palliativpflege im häuslichen Umfeld profitierten. Mithilfe von Daten über die Patienten aus ärztlichen Diagnosen sowie aus Mustern häufig eingesetzter Therapien ermittelt das Aspire-Programm jene Patienten, für die eine solche Palliativversorgung infrage kommt.

2. Algorithmus der Stanford University

Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Wissenschaftler der Fakultät für Informatik an der Stanford University. In einer aktuellen Veröffentlichung stellen die Forscher ein neuronales Netzwerk vor, das sie mit Patientendaten gefüttert und darauf trainiert haben, vorherzusagen, ob ein Krankenhauspatient innerhalb der nächsten drei bis zwölf Monate stirbt.

Das Ziel des Stanford-Teams um Anand Avati: „Unser Ansatz nutzt eine gründliche Untersuchung von hospitalisierten Patienten, um jene zu identifizieren, die einen Bedarf an Palliativmedizin haben.“. Es seien Patienten, die andernfalls unter den aktuellen Versorgungsmodellen möglicherweise übersehen werden könnten. Die Prognose soll es Ärzten ermöglichen, die Bedürfnisse und Wünsche am Lebensende besser zu erfüllen, insbesondere indem palliativmedizinische Teams rechtzeitig mit in die Versorgung der Patienten einbezogen werden.

Kommerzieller Nutzen vs. öffentliches Interesse

Das Vorhersagefenster von drei bis zwölf Monaten ist in der Palliativmedizin von besonderer Bedeutung. In dieser Zeit erweist palliativmedizinische Versorgung den größten Nutzen für den Patienten. Die Systeme von Aspire Health und der Stanford-Forscher sollen ähnlich wirken: Sie sollen helfen, Patienten frühzeitig zu identifizieren, die innerhalb dieses Zeitfensters mit größter Wahrscheinlichkeit sterben werden. Diesen Menschen soll dann früher als heute eine optimale Palliativversorgung im häuslichen Umfeld zugänglich sein und so ein menschenwürdiges Sterben ermöglicht werden.

Im Gegensatz zu den Stanford-Forschern verfolgt Aspire Health kommerzielle Interessen. Kerngeschäft des Unternehmens sind Angebote für eine ambulante Palliativversorgung. Interdisziplinäre Teams aus Ärzten, Pflegefachkräften und Seelsorgern kümmern sich um Schwerkranke in ihrem Zuhause und unterstützen deren Angehörige. Schmerz- und Symptomlinderung gehören dabei ebenso zur Dienstleistung wie etwa eine Telefonhotline, die den Betroffenen rund um die Uhr zur Verfügung steht.

Mehr als 50 Millionen US-Dollar Risikokapital haben Investoren seit 2013 in das einstige Startup aus Nashville, Tennessee gesteckt. Inzwischen ist Aspire Health in zahlreichen US-Städten in insgesamt 26 Bundesstaaten vertreten. Mitgründer des Unternehmens ist Bill Frist, der sich mit den politischen Hintergründen im US-Gesundheitswesen und den Zuständen in der Pflege bestens auskennt. Frist ist derzeit Chef des Direktoriums von Aspire Health. Als Politiker saß er zwölf Jahre lang als Republikaner im US-Senat. Vier davon amtierte der ehemalige Herzchirurg als Mehrheitsführer und wurde 2008 sogar als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen gehandelt.

Neben der Patientenversorgung verfolgt First bei Aspire Health ein klares Ziel: Die Therapiekosten für schwer kranke und chronisch kranke Patienten zu senken, indem sie gegen die statistische Lebenserwartung gegengerechnet werden. Unnötige Medikamente mit belastenden Nebenwirkungen, nervenaufreibende Behandlungen und Aufenthalte in Krankenhäusern mit unklarem Ausgang sollen den Betroffenen am Lebensende so erspart werden. Stattdessen verspricht das Unternehmen eine kostengünstigere und zugleich professionellere palliativmedizinische Versorgung, die ein menschenwürdigeres Sterben in vertrauter Umgebung ermöglicht.

Aspire-Health-Algorithmus: Große Versprechen, viel Unklarheit über tatsächliche Wirkung

Einer Studie der US-Stiftung Henry J. Kaiser Family Foundation (KFF) zufolge wird rund ein Viertel aller Ausgaben von Medicare, der bundesstaatlichen Pflichtversicherung für Menschen ab 65 Jahren, für die Behandlung von Patienten innerhalb ihres letzten Lebensjahrs verwendet. „Dieses Geld wird nicht klug, effizient oder produktiv ausgegeben“, sagt Frist. Dagegen sparen die Kassen durch den Einsatz von Aspire Health und die daraus resultierende Vermeidung unnötiger Behandlungen Tausende Dollar pro Patient. Krankenhausaufenthalte würden um mehr als 50 Prozent reduziert und die Zufriedenheit der Patienten sowie deren Familienangehöriger sei enorm, behauptet Frist.

Doch unklar ist, was Aspire Health unter „unnötigen“ Behandlungen versteht. Ist etwa eine Chemotherapie unnötig, wenn sie das Leben nur um wenige Monate oder gar Wochen verlängert? Es gibt Patienten, die sich gegen die Nebenwirkungen und für mehr Lebensqualität entscheiden. Manche klammern sich aber an jeden Funken Hoffnung und entscheiden sich für die Chemo, obwohl ihnen sogar der Arzt davon abrät – und das ist ihr gutes Recht.

Das Problem: Eine Validierung ihres Algorithmus bleibt Aspire Health bisher schuldig. Es gibt keine öffentlichen Studien darüber, wie hoch die Kosteneinsparungen tatsächlich sind, inwiefern eine Identifikation von Palliativpatienten durch den Algorithmus tatsächlich dazu beiträgt, den Zugang zur Versorgung zu verbessern, oder wie gut der Algorithmus auch die „richtigen“ Patienten identifiziert. Auch die genaue Funktionsweise des „Todes-Algorithmus“, wie er jüngst in einem ARD-Beitrag genannt wurde, liegt im Dunkeln. Betriebsgeheimnis.

Stanford-Algorithmus erweist sich als treffgenau

Das ist der eklatante Unterschied zum Algorithmus der Stanford-Forscher. Dieser ist öffentlich einsehbar und die erste Studie liefert lediglich einen Proof of Concept: Die Patienteninformationen, die in den Algorithmus fließen, stammen aus einem Datenpool von insgesamt rund zwei Millionen Erwachsenen und Kindern, die zwischen 1994 und 2014 im Stanford Hospital oder im Lucile Packard Children’s Hospital behandelt worden waren.

Die Daten, die von jedem Patienten in das System gespeist wurden, stammten aus elektronischen Patientenakten und umfassten die gestellten Diagnosen und durchgeführten Behandlungen, Zahl und Art der angeordneten Bildaufnahmen (Röntgen, Ultraschall, CT etc.), Aufenthaltstage im Krankenhaus sowie die verschriebenen Medikamente. Aus dieser Datenmenge filterte das Forscherteam zunächst rund 160.000 Patientenfälle, mit denen sie die künstliche Intelligenz (KI) trainierten. Anschließend überprüften sie in einem Test mit den Daten von 40.000 weiteren Patienten, wie gut die Maschine gelernt hatte, den Todeszeitpunkt zu berechnen.

Das Ergebnis: Neun von zehn Patienten, deren Tod der Testprognose zufolge innerhalb von drei bis zwölf Monaten eintreten sollte, waren in der Tat innerhalb dieses Zeitfensters gestorben. Damit war die Rate von Fehlalarmen gering. Und 95 Prozent der Patienten mit einer vorhergesagten niedrigen Sterbewahrscheinlichkeit hatten tatsächlich mehr als zwölf Monate überlebt.

Menschliche Schwäche: Überoptimismus

Ärzte dagegen, das zeigen Studien immer wieder, sind weniger gut darin, den nahenden Tod eines Patienten vorauszusagen. Eine Überblicksanalyse aus London etwa kommt zu dem Schluss, dass die Trefferquote der ärztlichen Prognosen zwischen 23 und 76 Prozent liegen kann. Und mehrere Studien haben ergeben, dass häufig die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten überschätzt wird – weil Ärzte menschlich sind und damit eher einen Optimismus hegen. Dieser Überoptimismus aber birgt die Gefahr, dass ein Patient zu spät palliativmedizinisch versorgt wird und bereits früher von der Betreuung hätte profitieren können.

Zwar gibt es in der Medizin einige Tools und Scores, die Mediziner dabei unterstützen, die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Schwerkranken objektiver einschätzen zu können. Doch eine frühzeitige und zuverlässige Prognose, in welchem Zeitraum ein Patient wahrscheinlich stirbt, liefern sie bisher nicht.

Ärzte verlassen sich daher in den meisten Fällen auf ihre Erfahrung: Sie wissen zum Beispiel, wie viele Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs diesen statistisch gesehen überleben und wie lange die durchschnittliche Überlebenszeit bei einer solchen Diagnose ist. Zudem kennen sie den Zustand des Patienten. Und wenn sie ihn schon länger betreut haben, wissen sie auch, wie es um die psychische Verfassung steht. Hat der Patient noch einen Überlebenswillen? Oder ist er vielleicht schon zu müde und abgekämpft und hat er sich innerlich mit seinem Schicksal abgefunden?

Standardisierte Kriterien für eine SAPV-Verordnung gibt es hierzulande nicht. Es fließen also auch sehr viele menschliche, sprich subjektive Faktoren in die Entscheidung des Arztes mit hinein, eine palliativmedizinische Versorgung für einen Patienten zu empfehlen.

Noch hat die Veröffentlichung der Stanford-Forscher ein Peer-Review-Verfahren nicht durchlaufen. Das heißt, eine Überprüfung der Ergebnisse durch andere, nicht an der Studie beteiligten Wissenschaftler, steht noch aus – ebenso wie ein Test unter realen Bedingungen, also mit Daten von Patienten, die noch leben. Im Gegensatz zum Algorithmus von Aspire Health ist der Stanford-Algorithmus jedoch kein Betriebsgeheimnis.

Lehren für Algorithmen als Entscheidungsunterstützungssysteme in der Palliativversorgung

Einer öffentlichen und auch gesellschaftlichen sowie ethischen Diskussion um einen „Todes-Algorithmus“ steht also im Falle der Entwicklung aus Stanford nichts im Wege. Diese ist auch nötig. Es stehen noch viele Herausforderungen an, bevor ein solch selbstlernender Algorithmus standardmäßig in der Palliativversorgung eingesetzt werden sollte:

  • Wie lassen sich solche Algorithmen überprüfen? Bei selbstlernenden Algorithmen sind die Ergebnisse nicht deterministisch, das heißt, sie sind nicht vorhersagbar und somit auch schwerer überprüfbar. Wie also werden die Kriterien definiert, ob ein selbstlernender Algorithmus einen Test besteht oder nicht? Unter welchen Voraussetzungen gilt ein „Todes-Algorithmus“ als zuverlässig validiert?
  • Die finale Entscheidung über die Behandlung wird vom Arzt getroffen. Doch was ist, wenn dieser mögliche Fehlempfehlungen des Algorithmus nicht erkennt? Wie können wir Ärzte dazu befähigen, die Empfehlungen der Systeme besser zu verstehen und Fehler zu erkennen?
  • Wer entscheidet, wie der Algorithmus programmiert wird? Welchen genauen Zweck soll er erfüllen? Das betrifft zum Beispiel die Einstellung von Sensitivität und Spezifität der Algorithmen.
  • Welche Datenbasis darf, soll oder muss einem solchen Algorithmus zugrunde liegen? Genügen Daten etwa aus elektronischen Patientenakten? Oder sollten auch weitere Daten in die Berechnung mit einfließen, etwa Notizen des Arztes oder gar Aussagen der Patienten? Dürfen solche Algorithmen kommerziell vertrieben werden?

Sofern ein Algorithmus zuverlässig und mit einer hohen Treffergenauigkeit voraussagen kann, ob und ab wann ein Patient von der Palliativmedizin besonders profitieren würde, kann er für einen Arzt tatsächlich eine Unterstützung sein. Je sicherer der Arzt sich mit seiner Prognose ist, desto besser kann er dem Patienten eine fundierte Empfehlung für eine optimale Versorgung geben.

Für viele Menschen mag es ein großes Unbehagen hervorrufen, dass ein Computerprogramm eine Sterbewahrscheinlichkeit voraussagt. Doch ob mit oder ohne Algorithmus – am Ende obliegt es dem Arzt, welche Botschaft er dem Patienten überbringt und wie er sich gemeinsam mit ihm für oder gegen eine palliativmedizinische Versorgung entscheidet.

Grundvoraussetzung aber dafür ist Transparenz: Der Arzt muss wissen, wie der Algorithmus funktioniert, auf welcher Datenbasis er eine Prognose abgibt und wie spezifisch beziehungsweise sensitiv diese ist. Also wie häufig identifiziert der Algorithmus diejenigen richtig, die tatsächlich innerhalb eines bestimmten Zeitfensters versterben? Und wie häufig diejenigen richtig, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, ein bestimmtes Zeitfenster zu überleben?

Es ist Aufgabe der Zulassungsbehörden, für diese Transparenz zu sorgen. Hersteller solcher Algorithmen müssen in die Pflicht genommen werden und Nachweise über Effizienz, Leistungsfähigkeit, Restrisiken, Treffergenauigkeiten und vieles mehr abliefern. Umgekehrt müssen die Zulassungsbehörden auch neue Regularien entwickeln, die diesen Herausforderungen auch möglichst entsprechen – ohne dabei Innovationsfortschritte zu bremsen.

Eine Black Box wie der Algorithmus von Aspire Health lässt noch zu viele Fragen offen. Schließlich verdient die Firma mit ambulanten Palliativangeboten ihr Geld. Es fällt leicht, ihr zu unterstellen, dass die künstliche Intelligenz vielleicht so darauf trainiert ist, möglichst viele Patienten als geeignet zu identifizieren – wodurch eine Therapie zu früh aufgegeben wird. Möchte man so einem Algorithmus trauen?


Dies ist der zweite Teil einer dreiteiligen Artikelserie zu Algorithmen zur Berechnung von Todesrisiken.

Hier finden Sie Teil 1 der Artikelserie: „Wie Algorithmen Menschen vor einem frühzeitigen Tod bewahren können

Und hier Teil 3: „Algorithmen für die Berechnung von Todesrisiken: die Lehren