Bereits seit 2009 verwendet die französische Regierung Algorithmen, um Studienplatzbewerber Unis zuzuteilen. Das System scheiterte – an fehlender Transparenz und an fragwürdigen Entscheidungsprozessen. Das neue System, „Parcoursup“ soll nun alles besser machen. Doch ist Parcoursup vielleicht nicht mehr als eine neue, schönere Verpackung für ein altes problembelastetes System?
Am Ende durften die Jugendlichen fast bis Mitternacht ihre liebsten Studiengänge auswählen: Der Andrang auf das neue, algorithmenbasierte System Parcoursup in Frankreich war zu groß, die Deadline wurde in allerletzter Sekunde um einige Stunden verschoben. Französische Abiturientinnen und Abiturienten hatten Mitte März 2018 ihre Wünsche auf einer Internetseite eingetragen, sie konnten bis zu zehn verschiedene Studiengänge oder Orte angeben. Parcoursup soll das Debakel des vorherigen Systems „APB“ beenden: Bei dieser automatischen Zuweisung blieben am Ende tausende Abiturienten ohne Studienplatz und verschiedene Verbände verklagten das Pariser Forschungsministerium darauf, den Algorithmus hinter dem System zu veröffentlichen.
Nun soll Parcoursup alle 800.000 jungen Anwärter zufriedenstellen. Ende Mai 2018 wurden die ersten Plätze vergeben: Rund die Hälfte der jungen Menschen hat auf Anhieb einen Wunschplatz erhalten. Die andere Hälfte muss sich nun noch einige Wochen gedulden, um entweder Plätze von Anwärtern zu ergattern, die sich schließlich entscheiden, doch was anderes zu studieren, oder aber einen Studienplatz an einer Fakultät zu erhalten, die gar nicht auf der Liste stand. Alle hofften, dass die Zahl der Unzufriedenen mit Parcoursup möglichst gering sein werde. Schließlich entscheidet das System über die Zulassung zum Studium und somit auch über den beruflichen Werdegang eines ganzen Jahrgangs.
Und vor allem: Das Vorgängermodell APB war ein großes Desaster. Eigentlich sollte es mit der sprichwörtlichen Vetternwirtschaft an französischen Hochschulen aufräumen: Jahrzehntelang mussten Abiturienten für beliebte Fächer wie Jura oder Medizin persönlich vorsprechen oder Prüfungen ablegen. Dabei entschieden nicht selten die Beziehungen der Eltern über die Zusage zu einem Studium. Mit dieser Vetternwirtschaft sollte APB aufräumen. Wie „Parcoursup“ sammelte auch APB die Wünsche der Schülerinnen und Schüler, allerdings konnten sie insgesamt 24 Studiengänge und nicht nur zehn angeben. Der größte und umstrittenste Schritt folgte, nachdem so viele Personen wie möglich auf ihre Wunschhochschule verteilt wurden: Die restlichen Plätze wurden ausgelost. Dieses „Glücksspiel“ empfanden viele Studienbewerber als stressig und ungerecht. Vor allem aber machte die damalige Regierung unter Francois Hollande den Fehler, den Algorithmus, der die jungen Menschen auf die Unis verteilte, zu verheimlichen. Erst nach einer Klage der Studierendenverbände wurde dieser veröffentlicht.
Nicht einmal die Hochschulministerin kann Parcoursup erklären
Parcoursup sollte alles besser machen. Aber die als „großer Wurf“ angekündigte Reform hat auch großen Tücken: Niemand, nicht einmal die Bildungsministerin, konnte oder wollte erklären, wie die Plätze genau zugewiesen werden. Das algorithmische System wird so wenig verstanden, als hätten es Außerirdische und nicht die französische Regierung unter Emmanuel Macron erfunden. Der Grund ist ein Mix aus dem Algorithmus (Parcoursup) und einer anschließenden, menschlichen Auswahl für Aspiranten, die nicht durch das algorithmische System verteilt werden konnten.
Diesmal soll der Algorithmus die Studierenden auf ihre Wunschfächer verteilen – unabhängig davon, wo ihre Eltern wohnen. Weil es naturgemäß überlaufene Fächer – wie etwa Medizin – gibt und es insgesamt an Plätzen mangelt, sollen dann in einem zweiten Schritt nicht das Programm, sondern eben doch wieder die Fakultäten entscheiden, wer zu ihnen kommt. So kann beispielsweise gesellschaftliches Engagement für die Zulassung für Politikwissenschaften vorteilhaft sein. Deshalb mussten die Abiturienten auch zum ersten Mal einen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben für jedes einzelne ihrer zehn möglichen Wunschfächer abgeben. Ohne zu wissen, was von ihnen eigentlich genau erwartet wird, denn eine Art „Stellenausschreibung“ gab es von den Unis nicht.
Und genau an diesem Punkt hakt es auch mit der Transparenz: Hat das Bildungsministerium nach langem Drängen der Studierenden den Algorithmus für die allgemeine Verteilung der Plätze Ende Mai 2018 veröffentlicht, verschweigen die Universitäten weiterhin, nach welchen Regeln sie Studierende zulassen oder abweisen. Zudem: Viele Universitäten räumen ein, nicht jedes Dossier lesen zu können. In manchen Fakultäten wird es erwartungsgemäß zehn oder fünfzehntausend Bewerber auf weniger als hundert Plätze geben – diese Institute werden ihre Anwärter einfach nach dem Notendurchschnitt bewerten müssen. Egal, was im Lebenslauf steht. Denn der Notenschnitt ist eine Info, die ein Computerprogramm leicht zu einer hierarchischen Liste zusammenführen kann, und wäre dann wiederum dem deutschen Numerus Clausus ähnlich. „Eine Note sagt nichts über eine Kompetenz aus“, sagt Jimmy Losfeld, Präsident der Studierendenvereinigung FAGE (fédération des associations générales étudiantes). Er plädiert dafür, alle Elemente der Bewerbungsmappe zu berücksichtigen.
Das neue System Parcoursup ist an den Hochschulen sehr unterschiedlich beliebt: Am Tag der Deadline wurde ein interner Bericht der Generalinspektion der höheren Bildung publik. Sein Tenor: Es gebe große philosophische und technische Probleme mit Parcoursup: Manche Universitäten würden es gar boykottieren, interne Auswahlverfahren zu starten, andere hätten nicht die Zeit, dies zu tun. Wie viele Studierende am Ende an einer Uni landen, die gar nicht unter ihren 24 Wünschen war, kann niemand vorhersagen
„Parcoursup ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie Algorithmen heute wirken: Sie machen Angst“, sagt Serge Abiboul, Informatiker und Verfasser des Buches „Die Epoche der Algorithmen“. Die Zulassung zur Universität rufe eine existenzielle Sorge bei den Eltern hervor, dass ihre Kinder scheitern könnten. Frankreich habe ein extrem hierarchisches System: Wer an den staatlichen „grandes écoles“ studiert, kann sich seinen Job später aussuchen, wer an weniger renommierten Fakultäten landet, wird es schwer haben. Daher sei die Wahl des Fachs so extrem wichtig. Für Abiboul ist Parcoursup aber in Wirklichkeit gerechter als die früheren Systeme, bei denen allein Menschen entschieden. „Das war ungerecht, weil sehr häufig über Beziehungen entschieden wurde, wer an welcher Fakultät studieren konnte. Es war ein sehr undurchsichtiges System. Ein Algorithmus hingegen ist blind für solche Vetternwirtschaft.“
Auch ein effizienter Algorithmus kann den Mangel an Studienplätzen nicht lösen
Allerdings machte APB und nun auch Parcoursup zum ersten Mal offensichtlich, dass Frankreich ein viel grundsätzlicheres Problem hat: Es gibt nicht genug Plätze an den Hochschulen. In diesem Jahr werden 800.000 Abiturientinnen und Abiturienten die Schule verlassen, an den Unis fehlen aber einige zehntausend Plätze. Ein Mangel, den eine computergesteuerte Verteilung natürlich nicht ausgleichen kann.
„Ich habe nur drei Fakultäten in meiner Heimatstadt Nizza angegeben, um sicher zu sein, dass ich dort lande“, sagt Sébastien, ein Abiturient der südfranzösischen Stadt. Andere Studierende haben genau eine gegenteilige Strategie und haben selbst Fächer angegeben, die sie eigentlich nicht studieren wollen, aus Angst, ansonsten gar keinen Platz zu erhalten.
„Wir wissen: Je weniger Wünsche die Studierenden frei haben, umso strategischer entscheiden sie sich“, sagt Anneliese Nef, Historikerin an der Universität Paris 1/Sorbonne. Die Angaben der Studierenden entsprächen so nicht mehr ihren wahren Wünschen. „Bei APB konnten sie 24 Studienplätze aussuchen, das war besser“, so Nef. Die Gewerkschafterin kritisiert Parcoursup stark: Aus ihrer Sicht wolle es durch die Hintertür eine Selektion dahingehend einführen, dass nicht mehr alle Abiturientinnen und Abiturienten künftig studieren können sollen. „Wie so häufig diskutieren wir nur über die Technik und nicht darüber, ob Parcoursup ethisch vertretbar ist“, bemängelt Nef. Natürlich sei es wichtig, dass der Algorithmus technisch funktioniert, aber was stecke wirklich dahinter?
Eine Antwort auf diese Frage ist nicht bekannt. Die französische Regierung scheint nicht aus ihren Fehlern gelernt zu haben. Wie bereits APB wurde auch Parcoursup wenig verständlich und nachvollziehbar ins Netz genommen. Studierende rätseln, welche Zusatzqualifikationen ihnen wohl Punkte bringen könnten, sie wissen nicht, ob ihr jetziger Wohnort bei der Vergabe eine Rolle spielt oder welche Bewertung ihr Gymnasium noch zusätzlich an die Universitäten weiterreicht. Größtes Problem dabei: Mit Parcoursup werden plötzlich Fächer zugangsbeschränkt, die vorher noch frei waren. Auch für weniger nachgefragte Fächer, wie mittelalterliche Geschichte oder Deutsch, mussten die Aspiranten nun Lebensläufe und Motivationsschreiben liefern – obwohl sie früher angewählt werden konnten, ohne sich bewerben zu müssen. Und möglicherweise sind mit Parcoursup dann beispielsweise tatsächlich mehr Bewerber für mittelalterliche Geschichte im Rennen, weil die Abiturienten ja nun mal zehn Fächer angeben mussten. Und anders als bei APB sind die Wünsche nicht hierarchisiert, der Algorithmus kann gar nicht erkennen, ob die Abiturientin genauso gerne Medizin wie Mathematik studiert. Ob für ein Fach am Ende der Lebenslauf entscheidet oder aber so wenig Nachfrage herrscht, das Parcoursup direkt den Platz vermittelt, ist bis zur letzten Sekunde nicht klar gewesen. Alle Betroffenen, ob Abiturienten, Dozenten oder auch Eltern, beklagen dieses „schwarze Loch“ bei Parcoursup. Wer oder was entscheidet am Ende wirklich über die Zu- oder Absage?
Nef und ihre Kollegen wehren sich auch gegen Parcoursup, weil sie glauben, dass das System die soziale Ungleichheit in der französischen Gesellschaft verschärfen werde, so wie es bereits bei APB der Fall war. Jetzt werde eine Selektion eingeführt. „Emmanuel Macron hat das Recht diese einzuführen“, so Historikerin Nef, „aber er muss sie auch als solche benennen. Sonst konfisziert er meine Diskussion.“
Den Quellcode zu veröffentlichen ist gut – besser ist, wenn er auch verstanden wird
Viele fordern daher Transparenz. „In einem ersten Schritt ist es gut, dass der Quellcode veröffentlicht wurde“, sagt Nozha Boujemaa, Direktorin des staatlichen DATAIA-Instituts, das über die sozialen und ethischen Folgen von Datensystemen forscht. Die einfache Veröffentlichung des Quellcodes reicht jedoch nicht aus. Darüber hinaus müsse er auch erklärt und verstanden werden, so Boujemaa.
„Der Staat hat nichts zu verbergen. Er kann sich nicht hinter einem undurchsichtigen System verstecken. Alle Entscheidungen müssen nachvollziehbar sein“, sagt die in Frankreich bekannte Digitalexpertin. Ob Parcoursup die Universität nun selektieren lässt oder nicht, das könne auch sie nicht bewerten. „Aber wenn die Regierung selektieren möchte, dann muss sie das auch öffentlich machen. Dann gilt die Kritik aber dem politischen Willen dahinter – und nicht dem Algorithmus. Das sind zwei verschiedene Dinge“, so Boujemaa. Deswegen sei es so wichtig, die Black Box aufzubrechen. Alles andere führe nur zu Verschwörungstheorien. Und davon kursieren zurzeit viele in Frankreich – noch bevor Parcoursup seine Feuertaufe bestanden hat.
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