Der sechste von neun Beiträgen über die Effekte von Algorithmen auf einzelne Personen, Staat und Gesellschaft sowie das soziale Miteinander behandelt die faire Verteilung knapper Güter mit algorithmischer Hilfe. Bereits erschienen: Personalisierung, Zugang, Befähigung, Freiraum und Kontrolle.

„Gesucht wird ein Superhirn, das knappe Güter pünktlich, effizient, nach nachvollziehbaren Kriterien und unter Berücksichtigung vielfältiger Kundenwünsche fair und passgenau verteilt.“ Das ist die Beschreibung eines Jobs, der ganze Abteilungen in Behörden in Atem hält und ob seiner extremen Komplexität nicht selten überfordert. Die Verteilung knapper öffentlicher Ressourcen ist dementsprechend nicht selten Grund für Unmut und Proteste. Dabei sind die Ansprüche der Bürger an die Ämter nicht unbedingt überzogen. Sie haben ein Recht auf möglichst effizienten Umgang mit Steuergeldern und auf gerechte Teilhabe an öffentlich organisierten Gütern wie Bildung und Sicherheit. Könnte das ein Job für Algorithmen sein?

Eingeschult per Algorithmus

In Berlin können Eltern die Grundschule für ihr Kind nicht frei wählen. Stattdessen ist die Stadt in Einzugsgebiete eingeteilt, der Wohnort bestimmt über den Bildungsort. Für viele Familien ist das ein hochsensibles Thema, weil sie die Bildungschancen ihrer Kinder gern in der eigenen Hand hätten. Schließlich können sich die Grundschulen in der näheren Umgebung durchaus stark voneinander unterscheiden, weshalb immer wieder Eltern per Anwalt gegen den amtlich zugewiesenen Grundschulplatz vorgehen. Vor allem sozial Bessergestellte versuchen, ihr Kind an der favorisierten Schule einzuklagen.

Da die Zahl schulpflichtiger Kinder pro Straßenzug und Wohnviertel sich ständig verändert, legen die Schulämter die Einzugsgebiete jedes Jahr neu fest. Sollen die Kinder einer bestimmten Hochhaussiedlung weiterhin zur Grundschule A oder zur etwas entfernteren Grundschule B geschickt werden? Ist es vertretbar, die linke Seite einer Straße einem anderen Schulsprengel zuzuweisen als die rechte? Das sind typische Fragen, über die Behördenmitarbeiter regelmäßig entscheiden müssen. Neben der sozialen Durchmischung gilt es, auch die maximale Klassengröße von 26 Kindern sowie Sicherheit und Länge der Schulwege zu berücksichtigen. Der Versuch, alle diese Kriterien einzuhalten, bindet erhebliche Ressourcen. Trotzdem stößt das Ergebnis bei den Eltern regelmäßig auf Unzufriedenheit. Die Schulverwaltung kommt hier aufgrund der Komplexität der Aufgabe an ihre Grenzen. Denn auch noch so ausgefuchste Zettelwirtschaft und Excel-Listen sind kaum geeignet, eine Verteilung der Grundschulplätze zu gewährleisten, die alle formalen Bedingungen erfüllt und die Wünsche möglichst vieler Familien berücksichtigt.

Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg setzt deshalb seit 2016 auf algorithmische Hilfe. Die Berliner Agentur idalab entwickelte für das dortige Schulamt ein System, das die Mitarbeiter mit relativ simpler Mathematik unterstützt. Der idalab-Algorithmus nutzt Daten wie Wohnadressen, Anzahl der künftigen Schüler, die Dichte an Sozialleistungsempfängern sowie die Standorte und Kapazitäten der Grundschulen. „Unsere Software erlaubt der Behörde, große Teile des Planungsprozesses zu automatisieren. Sie kann jetzt per Knopfdruck die Einzugsgebiete der Grundschulen hinsichtlich Auslastung und Schulweg optimieren und für dieses komplexe Verteilungsproblem sehr einfach die objektiv beste Lösung finden”, erläutert Paul von Bünau, Geschäftsführer von idalab. Vorab müssen die zuständigen Mitarbeiter lediglich Kriterien wie soziale Vielfalt, Länge des Schulwegs und Klassengröße gewichten. Die Software berücksichtigt dann die Restriktionen und Präferenzen beim Zuschnitt der Schulsprengel. Das Ergebnis wird auf einer Karte visualisiert und kann händisch angepasst werden, etwa falls bestimmte Wohnblöcke bestimmten Schulen fest zugeordnet werden sollen. So lassen sich mit der Software auch alternative Szenarien prüfen und die Beamten können simulieren, wie neue Schulstandorte sich auswirken würden.

Der Berliner Schuleinzugsrechner dient der Gesellschaft. Er berechnet – im Rahmen vorgegebener Ziele und Grenzen – die mathematisch bestmögliche Lösung für die Verteilung eines wichtigen, oft auch knappen Gutes. Die Mitarbeiter im Schulamt entledigen sich einer zeitraubenden, überkomplexen Aufgabe, behalten aber die Entscheidungshoheit, denn sie sind es, die die Kriterien gewichten. Je nachdem, welche Prioritäten sie setzen, zieht der Algorithmus die Grenzen der Schuleinzugsgebiete anders. Sofern Politik und Verwaltung die Eltern über diese Prioritäten transparent informieren, können sie durchaus auf höhere Akzeptanz ihrer mit algorithmischer Hilfe getroffenen Bescheide hoffen.

Wenn das Tischtuch zu kurz ist

Genau diese Transparenz fehlt bei der Studienplatzvergabe in Frankreich. Seit zehn Jahren nutzt die Regierung dort Algorithmen, um den jährlich rund 650.000 Abiturienten im Land einen Studienplatz zuzuweisen. Jeden Sommer kämpft eine Generation von Erstsemestern darum, sich für das Wunschfach an der Wunsch-Uni einschreiben zu dürfen. Das gelingt natürlich nicht allen, denn Angebot und Nachfrage sind niemals deckungsgleich. Also gilt es, Zweit-, Dritt- und weitere Alternativwünsche zu berücksichtigen, um am Ende möglichst allen ein passendes Studium anzubieten und zugleich landesweit möglichst alle Studienplätze auszulasten. Eine komplexe Aufgabe, die ab 2009 ein Algorithmus übernahm. Der erste Versuch endete in einem Debakel.

Dabei war die Absicht der Regierung ehrenwert. Denn es galt als offenes Geheimnis, dass die begehrtesten Studienplätze oft über Beziehungen der Eltern vergeben wurden. Gerade in Frankreich ist es für die spätere Karriere von entscheidender Bedeutung, an einer der Grandes Écoles studiert zu haben. Die Software sollte nun die Seilschaften kappen, einzig die Qualifikation der Bewerber entscheidend sein. Obwohl Gewerkschaften, Studierendenverbände, Schülerorganisationen und Eltern dieses Ziel ausdrücklich goutierten, liefen sie trotzdem Sturm gegen die algorithmische Verteilung der Studienplätze. Denn niemand wusste, wie das Verfahren ablief und welche Kriterien den Entscheidungen zugrunde lagen. Das Bildungsministerium weigerte sich vehement, den Algorithmus zu veröffentlichen. Erst nach einem Gerichtsurteil fügte sich die Regierung – und machte es nur noch schlimmer. Sie stellte den erfolgreich klagenden Studierendenvertretern per Briefpost einen unkommentierten 250-Seiten-Ausdruck des Programmiercodes zur Verfügung. Ohne weitere Erläuterungen. Erst aufwendige Untersuchungen förderten zutage, dass der Algorithmus die Nähe des Wohnorts zur gewünschten Hochschule am stärksten gewichtete. Damit verschärfte er tendenziell bestehende soziale Ungleichheiten. Denn wer näher (und damit oft teurer) an den renommierten Hochschulen von Paris wohnte, hatte deutlich bessere Chancen auf einen dortigen Studienplatz. Das Bildungsministerium war angetreten mit dem Ziel, deren Vergabe gerechter zu gestalten, handelte sich durch Intransparenz aber Misstrauen und Verschwörungstheorien ein. Und letztlich triumphierten die Skeptiker auch noch, weil der Algorithmus fragwürdige Kriterien priorisierte und somit in der Tat erhebliche Schwächen aufwies.

Direkt zu Beginn seiner Amtszeit schaffte Präsident Emmanuel Macron das umstrittene System ab und ließ eine neue Software programmieren. Doch auch die im Frühjahr 2018 eingeführte Alternativlösung ist für Außenstehende schwer durchschaubar und ob das Problem sozialer Diskriminierung behoben wurde, ist zweifelhaft. Vielleicht ist es einer Software aber derzeit auch gar nicht möglich zu reüssieren, unerheblich nach welchen Kriterien sie entscheidet. Denn in Frankreich fehlen aktuell einige zehntausend Studienplätze. Das Tischtuch ist und bleibt zu kurz, daran kann der Algorithmus noch so virtuos herumzupfen. Der Ressourcenmangel macht die Verteilung zu einem unlösbaren Problem. Wo Ressourcen im System fehlen, ist der effizienteste Algorithmus machtlos. Eine solche politische Herausforderung kann nicht maschinell gelöst werden.

Dieser Beitrag basiert auf einem stark gekürzten und adaptierten Auszug des Kapitels „Verteilung: Ausreichend knapp“ aus dem Buch „Wir und die intelligenten Maschinen“.


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