Im Rahmen unserer Blogparade „Tech for Good? Echt jetzt?! Oder jetzt erst recht?!“ veröffentlichen wir Gastbeiträge auf unserem Algorithmenethik-Blog. Der folgende Beitrag ist ursprünglich auf dem Blog der Kolleg:innen aus dem Projekt „Inclusive Productivity“ erschienen. Wir freuen uns, das interessante Interview in unserer Blogparade zu featuren!
Das Coronavirus bestimmt seit Wochen die Schlagzeilen. Die Nachrichtenlage verändert sich rasant, im Minutentakt veröffentlichen Medien Wasserstandsmeldungen zu der Entwicklung rund um das Virus. Dass es wichtig ist, sich in der Aktualität nicht zu verlieren und auch die langfristige Zukunft im Blick zu haben, betonen Klaus Burmeister und Dr. Alexander Fink im Interview mit dem Wirtschaftsjournalisten Ben Schröder.
Ben Schröder: Herr Burmeister und Herr Dr. Fink, Sie beide sind Zukunftsforscher. Im Rahmen Ihrer Arbeit entwickeln und analysieren Sie also Szenarien, wie sich Deutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich langfristig entwickeln könnte. Für wie wahrscheinlich hätten Sie zu Jahresbeginn eine Situation gehalten, wie wir sie momentan im Zuge von Covid-19 erleben?
Klaus Burmeister: Für uns als Zukunftsforscher ist es üblich, dass wir bei der Erarbeitung und Analyse verschiedener Szenarien auch unerwartete Ereignisse berücksichtigen. In der Zukunftsforschung nennt man solche Ereignisse, die sehr unwahrscheinlich, aber theoretisch immer möglich sind, „Wild Cards“. Als Zukunftsforscher sind wir uns also durchaus im Klaren darüber, dass eine Situation, wie wir sie momentan erleben, immer eintreten kann. Das soll natürlich nicht heißen, dass wir die aktuelle Situation in irgendeiner Form haben kommen sehen. Von der Entwicklung wurden wir genauso überrascht wie vermutlich alle anderen Menschen in Deutschland.
Dr. Alexander Fink: So sehe ich das auch. Für uns als Zukunftsforscher ist es wichtig zu verstehen, wie solche „Wild Cards“ mit den von uns entwickelten Szenarien interagieren. Nur so können wir dafür sorgen, dass Strategien und Entscheidungen robust gegenüber solchen Ereignissen sind – oder wie man heute gerne sagt: „krisenresilient“.
Die Nachrichtenlage ändert sich momentan rasant. Medien veröffentlichen in Livetickern minütlich neue Nachrichten zum Coronavirus. Wie sehr beeinflusst das Ihre Arbeit als Zukunftsforscher, die ja von Berufswegen her langfristig denken?
Dr. Alexander Fink: Das ist eine berechtigte Frage. Als Zukunftsforscher sind wir es natürlich gewohnt, unsere Szenarien auf der Grundlage einer Reihe von Unsicherheiten zu entwickeln. In der Regel haben wir zu Beginn der Szenarienentwicklung aber eine klare Ausgangssituation, die mit relativ wenig Unsicherheit behaftet ist. Momentan ist es allerdings so, dass nicht nur die Zukunft – die nächsten drei, fünf oder zehn Jahre – sondern auch die Gegenwart mit massiver Unsicherheit belegt ist. Wie sich diese Pandemie letztlich entwickelt, ist kaum absehbar. Es ist noch nicht einmal klar, wie sich die Situation in der kommenden Woche darstellen wird. Das erschwert uns einerseits die Arbeit – andererseits macht es für jedermann deutlich, dass wir Werkzeuge brauchen, um mit Ungewissheit umzugehen.
Klaus Burmeister: Auch wenn wir als Zukunftsforscher eher darauf bedacht sind, langfristig zu denken, ist es momentan natürlich elementar, die Tagesaktualität im Blick zu haben. Täglich gibt es neue Dynamiken, die potenziell relevant für die zukünftige Entwicklung sein könnten. Die gilt es für uns in unseren Analysen und Szenarien zu berücksichtigen. Trotzdem müssen wir darauf achten, nicht in der Aktualität zu ertrinken und immer auch die langfristige Zukunft im Blick haben. Das ist durchaus ein Spagat, der momentan aber durchaus von allen Menschen – und gerade Politikern – in Deutschland verlangt wird.
Dr. Alexander Fink: Einen Aspekt möchte ich noch ergänzen. Natürlich ist es wichtig und richtig, wenn man sich jetzt an vielen Stellen darüber Gedanken macht, wie man auf ein solches Ereignis reagieren kann – also beispielsweise durch mehr Reserven oder robustere Wertschöpfungsketten. Mindestens ebenso wichtig ist es aber, solche strukturellen Veränderungen – Pandemien, Finanzkrisen, globale Konflikte, was auch immer – frühzeitig zu erkennen. Vielleicht ist Vorausschau der Prozess, der am Ende mit die höchste Systemrelevanz aufweist.
Langfristig zu denken ist auch das Ziel der Initiative „D2030“, die Sie beide im Jahr 2016 mit anderen Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforschern ins Leben gerufen haben. Was ist die Idee hinter der Initiative?
Klaus Burmeister: Die Idee ist es, Zukunftsszenarien für das Deutschland im Jahr 2030 zu entwickeln. Das heißt: Wie könnte unser Land in zehn Jahren aussehen? Was sind Herausforderungen, denen wir uns in den kommenden Jahren stellen müssen? Was müssen wir tun, um ein wünschenswertes Szenario zu erreichen? Zwar gibt es bereits einige Initiativen, die Szenarien für bestimmte Teilbereiche entwickeln, mit „D2030“ haben wir aber erstmals das gesamte Land in den Blick genommen. Das Ziel ist es, politisch und wirtschaftlich unabhängig einen konstruktiven Beitrag zum Zukunftsdiskurs in Deutschland zu leisten.
Dr. Alexander Fink: Der Untertitel der Initiative zeigt ganz gut, wofür wir stehen: „Eine Landkarte für die Zukunft“. Die haben wir mit unseren Szenarien aufgespannt – und die gilt es nun fortzuschreiben. Im Rahmen von „D2030“ kommen dazu Experten aus verschiedenen Fachbereichen zusammen, um die unterschiedlichen Zukunftsszenarien zu diskutieren und zu bewerten.
Im Rahmen von „D2030“ haben Sie kürzlich mehr als 100 Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Medien zur Zukunft nach Covid-19 befragt. Was sind die Kernergebnisse Ihrer Untersuchung?
Dr. Alexander Fink: Unsere Untersuchung bestand aus zwei Teilen. Im ersten Teil wollten wir erfahren, mit welchen kurzfristigen Folgen die Experten im Zuge der Pandemie rechnen. Deutlich geworden ist dabei, dass kurzfristig kaum jemand eine Rückkehr zur alten Normalität erwartet, nämlich nur drei Prozent der Befragten. 7 Prozent der Experten befürchten, dass die Pandemie zu einer verheerenden Krise führen könnte. Ein Großteil der Zukunftsexperten ist allerdings optimistisch: 61 Prozent der Befragten rechnen mit einem Strukturwandel im Zuge der Pandemie, also einer zukünftigen Realität, die signifikant anders aussehen wird als die Welt vor Covid-19.
Im zweiten Teil der Befragung haben wir die Experten dann um eine Einschätzung zur langfristigen Entwicklung in Deutschland nach der Pandemie gebeten. 73 Prozent der Befragten verstehen den eben angesprochenen Strukturwandel als Chance für den Anstoß einer neuen, positiven Entwicklung in Deutschland – hin zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung. Demgegenüber stehen 23 Prozent, die eher skeptisch sind und mit einem Rückgriff auf bestehende Denkmuster und einer zunehmenden Abschottung nach der Pandemie rechnen.
Welche konkreten Veränderungen erwarten die Experten?
Klaus Burmeister: Die Pessimisten sehen Werte- und Generationenkonflikte in der Gesellschaft, eine Überlastung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, Protektionismus und Handelsblockaden. Demgegenüber erwarten die Experten mit optimistischen Perspektiven zum Beispiel eine neue Arbeitsteilung zwischen ländlichen Räume und Metropolräumen, neue Formen der Gemeinschaft und kultureller Offenheit, auch das Entstehen einer breiten Innovationsbasis aus Konzernen und Mittelstand, eine gelingende digitale Erneuerung und eine gelungene Vereinbarkeit von Wirtschaft und Klimaschutz. Insgesamt eine Haltung, die den hohen Veränderungsdruck unterstreicht, damit die Grenzen einer „spurtreuen Beschleunigung“ aufzeigt und die Notwendigkeit unserer „Neuen Horizonte“-Szenarien von 2017 nachdrücklich bekräftigt.
Dr. Alexander Fink: Wir erwarten, dass diese Konfliktlinie – zwischen den Optimisten und den Pessimisten – die gesellschaftliche Diskussion nach der Coronakrise prägen wird. Es wird sicher darauf ankommen, dass diese beiden Blöcke eine gemeinsame Sprache finden, um eine langfristig positive Entwicklung in Deutschland möglich zu machen.
Was erwarten Sie in diesem Zusammenhang von der deutschen Politik?
Klaus Burmeister: Was nötig wird ist eine – wie ich es nenne – höhere Steuerungsintelligenz der Politik. Das heißt: Die Politik muss an einer besseren Vernetzung der Akteure arbeiten. Die kleinen, aber auch die ganz großen Unternehmen in Deutschland müssen zusammengebracht werden – untereinander, aber auch mit engagierten Akteuren aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und natürlich der Politik. Flankiert werden muss das Ganze natürlich auch von einer entsprechenden Forschungs-, Innovations- und Strukturpolitik, die den Mut hat, neue Wege zu gehen. Die klassischen Instrumente in diesem Bereich reichen unserer Meinung nach nicht aus, um langfristig eine lebenswerte Zukunft in Deutschland gestalten zu können.
Dr. Alexander Fink: Natürlich müssen wir die Herausforderungen der aktuellen Corona-Pandemie bewältigen – aber gleichzeitig stehen wir heute an Entscheidungspunkten, die über unseren langfristigen Kurs bestimmen. Daher sollten wir uns auch intensiver mit unserer gewünschten Zukunft beschäftigen. Oder wie wir sagen: Wir sollten einmal in unsere „Neuen Horizonte“-Szenarien hineinzoomen und dabei herausarbeiten, welches die wichtigsten Zukunftsfragen sind.
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