Ist »Tech for Good« kalter Kaffee oder muss man sich damit befassen, um Technologien in den Dienst der Gesellschaft stellen zu können? Der Journalist und Autor Marc Winkelmann widmet sich dieser Frage und folgt damit unserem Aufruf zur Blogparade. Der folgende Beitrag ist ursprünglich auf seinem Blog erschienen, auf dem auch eine Tech-for-Good-Serie zu finden ist, in der Marc Ideen, Gründer:innen, Initiativen und Unternehmen vorstellt, die versuchen, mit digitalen Technologien den Klimawandel aufzuhalten und die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Was wir aus eigenem Antrieb nicht geschafft haben, klappt jetzt. Wir digitalisieren uns. Corona sei dank. Lehrer*innen machen sich mit Videochats vertraut. Das »Home Office« wird zum festen Bestandteil des Arbeitsalltags. Roboter weisen in Supermärkten auf Hygienevorschriften hin. Das ungeliebte bargeldlose Bezahlen erscheint in einem ganz neuen Licht. Hersteller verzeichnen eine sehr hohe Nachfrage nach Maschinen, die Prozesse automatisieren. Und an dem in Windeseile organisierten »Wir vs. Virus«-Hackathon nahmen überwältigend viele Coder teil.
Manche behaupten, dass es keinen besseren Zeitpunkt gäbe, um auf neue Technologien und Algorithmen zu setzen. Weil Roboter, Blockchain, IoT, Big Data & Co. per se wie geschaffen sind für Krisen wie diese und sie jetzt zeigen können, wozu sie in der Lage sind. War es nicht immerhin auch eine künstliche Intelligenz, die den Ausbruch der Seuche zuerst gemeldet hat, am Silvestertag 2019, neun Tage vor der Weltgesundheitsorganisation (WHO)?
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Ein anderer ist: Die digitale Mobilmachung wurde durch menschliches Versagen ausgelöst. Covid-19 war kein schwarzer Schwan, kein unvorhersehbares Ereignis, sondern ist ein Kollateralschaden unseres Wirtschaftens, das in Kauf nimmt, dass Wälder abgeholzt, Arten dezimiert und Monokulturen gezüchtet werden. Tierische Erreger haben dann nämlich leichtes Spiel. Sie können sich vermehren und auf Menschen überspringen, weil diese immer stärker in die Lebensräume von Tieren eindringen, sie in Massen halten und auf Märkten handeln. So betrachtet ist unsere Digitalisierung zunächst einmal nur ein Pflaster auf streuende Wunden, die wir anderswo reißen. Eine Abwehrreaktion, mit der die Symptome gelindert werden sollen. Die aber nichts dafür leistet, dass die Ursachen beseitigt werden.
Und noch etwas: Die Krise ist, neben sinnvollen Anwendungen, auch die Zeit fragwürdiger Experimente. In Singapur wurde vor wenigen Tagen der vierbeinige und mit Kameras ausgerüstete Roboter »Spot« losgeschickt, um in Parks und anderen öffentlichen Plätzen zu patrouillieren. Er überwacht die Zahl der Besucher und fordert Spaziergänger und Picknicker über Durchsagen dazu auf, die notwendige Distanz zu wahren. Das ist kein Einzelfall: Woanders werden Senior*innen mit Hilfe von Drohnen zurück in ihre Häuser und Wohnungen geschickt oder Straßen und Autos mit Desinfektionsmitteln besprüht. Die Idee dahinter leuchtet zunächst ein – Polizist*innen und Ordnungskräfte sollen geschützt und entlastet werden. Auch andere Versuche klingen schlüssig: wenn Drohnen etwa Corona-Tests, Medikamente oder Lebensmittel an Menschen liefern, die momentan isoliert oder ohnehin in ländlichen Regionen leben. Oder wenn die unbemannten Fluggeräte aus der Luft und damit aus sicherer Entfernung die Körpertemperatur von potenziell Infizierten messen.
Schaut man allerdings genauer hin, wird deutlich, dass vieles noch nicht ausgereift ist und an übergriffige Maßnahmen von Politiker*innen erinnern, die die Krise nutzen, um ihre Macht auszubauen. Das mit dem Fiebermessen aus der Luft ist technisch längst nicht so einfach umgesetzt; das Erheben und Speichern von medizinischen Daten durch private Hersteller wirft zahlreiche unbeantwortete Fragen auf; Drohnen und Roboter, die öffentliche Plätze überwachen und über Lautsprecher Anweisungen erteilen, können sehr einschüchternd wirken; und da private Drohnenhersteller mit ihren Geräten Geld verdienen wollen und müssen, dürften sie Auslieferungen in ländliche, wenig besiedelte Regionen scheuen, weil diese finanziell nicht lukrativ sind.
Die Frage, welchen positiven Beitrag Technologien leisten können, ist alt. Sie kam und kommt immer wieder auf. Neu ist dagegen die Dringlichkeit, mit der Antworten gefunden werden müssen. Verbreiteten sich Geräte und Modelle früher schrittweise, werden sie jetzt weltweit zeitgleich verfügbar gemacht, und das in immer kürzeren Abständen. Neu ist zudem, dass immer häufiger explizit der Anspruch formuliert wird, »Tech for Good« solle gesellschaftliche Probleme lösen.
So passiert es auch gerade bei der größten Herausforderung, die wir im 21. Jahrhundert zu bewältigen haben: der Klimaerhitzung. Um diese einzudämmen und um die 17 von den Vereinten Nationen beschlossenen globalen Nachhaltigkeitsziele (»Sustainable Development Goals«) zu erreichen, sprechen sich immer mehr dafür aus, die Technologien der vierten industriellen Revolution zu nutzen: das deutsche Umweltministerium will mit seiner kürzlich vorgestellten umweltpolitischen Digitalagenda Projekte und Start-ups fördern, das Weltwirtschaftsforum und namhafte Unternehmensberatungen fordern ebenfalls, die Chancen von KI, Blockchain & Co. auszuloten, renommierte KI-Forscher betonen die Potenziale und die großen Tech-Konzerne sind ebenfalls mit an Bord. Amazon Web Services, Google, Intel, IBM, Salesforce, Microsoft – sie alle haben begonnen, ihre Technologien auch ökologisch und sozial motivierten Start-ups, nachhaltigen Initiativen und Forschern zur Verfügung zu stellen.
Man muss, ähnlich wie bei Corona, diese Projekte mit Vorsicht betrachten. Denn was passiert, wenn zunehmend mehr Programmierer dazu übergehen, ihre Weltsicht auf den nachhaltigen Sektor zu übertragen? Was wissen sie über Arten- und Klimaschutz, über das Leben in den Weltmeeren und die Menschenrechte? Wie groß ist ihr Durchhaltevermögen – und betrachten sie ihr Engagement als »nice to have« oder wird es gerade tatsächlich Teil ihrer DNA, wie es im Unternehmenssprech allzu häufig und vorschnell heißt? Das ist ebenso ungeklärt wie die Frage, wie viel energiefressende und CO2-produzierende Algorithmen die Welt noch verträgt. In den vergangenen zwei Jahren wurde immer offensichtlicher, dass die vermeintlich dematerialisierende digitale Welt sehr wohl eine materielle Basis hat. Die Endgeräte werden aus Ressourcen gefertigt, die endlich sind – und der Strom für den Betrieb der Rechner und Server sowie das Trainieren künstlicher Intelligenzen wird häufig noch aus fossilen Quellen gewonnen. Somit treibt man den Klimawandel voran, den man eigentlich bekämpfen will.
Andererseits: Corona zeigt gerade auch, dass neue Wege möglich sind, sogar eine Kollaboration zwischen den rivalisierenden Konzernen Google und Apple. Die Hersteller der beiden maßgeblichen Betriebssysteme für Smartphones haben sich bekanntermaßen bereit erklärt, gemeinsam eine Warn-App zu entwickeln. Solche Zusammenarbeiten existieren im Kampf gegen Klimawandel auf dieser Ebene nicht. Noch nicht? Möglich ist nach den hässlichen Erfahrungen der vergangenen Jahre (Hate Speech, Cybermobbing, Verschwörungstheorien, rechte Troll-Netze, Deep Fakes etc) jetzt auch, dass ein Lerneffekt eintritt, der auf einen gemäßigten, durch die Politik (u.a. die EU) regulierten Pfad führt.
Der Soziologe Armin Nassehi hat in seinem Buch »Muster« beschrieben, dass die Digitalisierung auch deshalb so erfolgreich wurde, weil sie anschlussfähig an unsere komplexer werdende Welt war und ist. Sie fungiert als ordnende Hand, die vorher unsichtbare Strukturen offenlegt und diese dann für uns steuerbar macht. Bezogen auf den Klimawandel sagt er voraus: »Die Umsetzung von Pollution-Zielen und die Umstellung auf alternative Energie- und Verkehrskonzepte folgen eben den brutalen Regeln einer komplexen, funktional differenzierten Gesellschaft – sie müssen gleichzeitig (sic!) politisch, ökonomisch, rechtlich, wissenschaftlich, technisch, medial und alltagskompatibel praktikabel sein. Folglich können es auch nur komplexe Reaktionsformen sein, mit denen man regulieren und Prozesse aufeinander abstimmen kann. Hierbei wird die Digitalisierung eine entscheidende Rolle spielen…«
»Tech for Good« wird, um seinem Namen gerecht zu werden, diese Kriterien erfüllen müssen. Keine leichte Aufgabe, an der womöglich beispielsweise die Hersteller der oben genannten Drohnen und Roboter scheitern. Vielleicht aber auch nicht, wenn sie – und alle kritischen Beobachter mit ihnen – das übernehmen, was wir während der Corona-Krise gerade gelernt haben zu predigen: testen, testen, testen. Darauf kommt es an. Jetzt, ab sofort, immer, im Sinne einer laufenden Technikfolgenabschätzung, die Experimente zulässt, aber diese auch aufgibt und einkassiert, wenn der eingeschlagene Weg sich als Fehler erweist. Dann können wir tatsächlich behaupten, dass wir es geschafft haben, uns zu digitalisieren.
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