Eine faire und offene digitale Gesellschaft benötigt das Primat der Politik – im Wissen um die alles durchdringende Macht der Technologie. Ein kohärenter europäischer Ansatz, der dem autoritären Zugriff Chinas ebenso entgegentritt wie dem amerikanischen Shareholder Value, ist überfällig.
Die Technologiepolitik als Schauplatz geopolitischer Auseinandersetzung hat coronabedingt eine kurze Verschnaufpause bekommen. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass das das Ringen um die technologische Vorherrschaft mit erhöhter Intensität weitergeht – und dass es Europa dabei noch an einem eigenen Zielbild mangelt. Das liegt auch daran, dass in Europa zwar viel von Werten gesprochen wird – konkrete politische Konsequenzen aber bislang ausbleiben. Es ist höchste Zeit, dies zu ändern.
Das Chatsystem WeChat des IT-Riesen Tencent ist in China mit über 1 Milliarde Nutzern ein Social-Media-Gigant. Für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben der Volksrepublik ist der Dienst nahezu unverzichtbar. Bezahlsysteme und andere Dienste bauen auf den Nutzerkonten bei der Plattform auf. Doch WeChat ist nicht nur wirtschaftlich eine Erfolgsgeschichte: Es ist auch eine mächtige Zensurmaschine. Automatisiert werden dort Inhalte geprüft, ob sie den chinesischen Wert- und Moralvorstellungen entsprechen, so, wie es die Staats- und Parteiführung per Gesetz verlangt.
WeChat wird dabei längst nicht mehr nur innerhalb Chinas verwendet. Doch wer außerhalb der Volksrepublik mit dem System kommuniziert, trägt laut einem Bericht der Forscher des renommierten kanadischen CitizenLab zum dortigen Zensursystem bei: Nachrichten unter nicht-chinesischen Nutzern durchlaufen demnach die gleichen Prüfungen wie die chinesischer Nutzer. Bei ausländischen Nutzern werden missliebige Chat-Inhalte zwar nicht entfernt – können aber ab dem Zeitpunkt ihrer Entdeckung für chinesische Nutzer auf dem Zensur-Index landen. Die freie Kommunikation am einen Ende der Welt wird dazu genutzt, Freiheit am anderen Ende zu reduzieren.
Dabei sind es nicht nur chinesische Systeme, in denen die Userinhalte ausgewertet und beschränkt werden. Auch Facebook setzt Erkennungsalgorithmen ein, um unerwünschte Inhalte auszufiltern. Darunter aus europäischer Sicht teils unbedenkliche wie Bilder von Müttern beim Stillen, teils aber auch inakzeptable Gewaltdarstellungen oder andere fast weltweit geächtete Inhalte. Auch Microsoft, Amazon, Apple und Google unterdrücken oder filtern terroristische und pornografische Inhalte auf ihren Plattformen und Cloud-Onlinespeichern.
Technologie ist in der Regel eben nicht neutral. Sie entsteht stets unter dem Eindruck bestimmter Werte – ihre Funktionen und Beschränkungen bilden die rechtlichen und gesellschaftlichen Konventionen des Herkunftslandes ab. Mit einer Software werden nicht nur Anleitungen für Bits und Bytes, sondern auch Normen und Werte exportiert: Was ist erlaubt? Was verboten? Was wünschenswert? Software definiert heute oft schon viel stärker als Paragrafen in Gesetzbüchern die Regeln unseres Zusammenlebens. Sie ersetzt ganz praktisch Behörden, Gesetzgeber und Öffentlichkeit und prägt damit zugleich unseren Maßstab dessen, was richtig, falsch, zulässig und tolerierbar ist. Was wir auf Facebook oder TikTok veröffentlichen, zunehmend auch was wir in Cloudspeicherdiensten ablegen dürfen und was nicht, definiert sich in erster Linie über die eingesetzte Software. Ob wir kreditwürdig sind, ob Videos als Satire gelten, wie sich unser Auto in Gefahrensituationen verhält: all das reguliert Software, in der sich bestehende gesellschaftliche Normen und Gesetze abbilden – durch die aber auch neue Regeln des Miteinanders geschaffen werden.
Vor dem Endgerät sind wir alle Weltbürger: Wir nutzen Software aus aller Herren Länder, nach aller Länder Regeln und jeweiligem kulturellen und wirtschaftlichen Verständnis. Überall dorthin liefern wir bereitwillig Daten und machen uns so mit fragwürdigsten Systemen gemein. Wir werden ganz praktisch zu Kunden und Lieferanten digitaler Diktatoren, helfen beim Erschaffen mächtiger Oligopole und begeben uns in unberechenbare Abhängigkeiten. Um in dieser digitalen Dynamik trotzdem unsere angestammten Rechte zu wahren und unsere europäischen Werte lebendig zu halten, bedarf es der Durchsetzungskraft größerer Entitäten – namentlich der EU.
Annegret Bendiek und Jürgen Neyer haben für die Bertelsmann Stiftung einen vielversprechenden Ansatz zur Beschreibung der europäischen Werte im digitalen Wandel entwickelt: Ihr Konzept der „Smarten Resilienz“ beschreibt eine Art von Widerstandsfähigkeit, die auf neue technologische Herausforderungen nicht mit dem bloßen Versuch reagiert, einen bereits vergangenen Zustand zu bewahren oder wiederherzustellen. Lernfähigkeit und Adaption stehen im Zentrum der Überlegungen. Europa muss eigene Akteure aufbauen und zugleich eigene, wertebasierte Regeln durchsetzen, die überall in Europa gleichermaßen gelten.
Die smart-resiliente europäische Werteordnung fußt auf vier zentralen Werten: Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit und Sicherheit. Sie gibt nicht den Wert der Freiheit auf, sondern reinterpretiert ihn als Eröffnung neuer Gestaltungsspielräume. Dies ist notwendig, da sich das Verständnis von Freiheit in Europa zunehmend individualisiert: Statt der Freiheit von äußeren Zwängen steht die Freiheit zur Selbstentfaltung in Fokus, wozu der digitale Raum viele neue Möglichkeiten bietet. Auch Verantwortung wird zunehmend als individuell zu gestaltender Wert verstanden und drückt sich in neuen Formen gesellschaftlichen Engagements aus, die es so zu analogen Zeiten noch gar nicht gegeben hat – digital organisierte Gemeinschaften wie etwa Fridays for Future können heute ohne zentrale Organisation gemeinsame Interessen in kurzer Zeit und mit geringem Aufwand artikulieren. Nachhaltigkeit hat in der öffentlichen Debatte eine zentrale Bedeutung gewonnen – digitale Innovation muss sich am schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen messen lassen. Auch die Idee von Sicherheit löst sich nicht auf, sondern hat eine neue Bedeutung als Schutz von digitalen Infrastrukturen erhalten: Vernetzte Kommunikations- und Verkehrssysteme oder Finanzmärkte sind durch Cyberangriffe verwundbar, aber zentral für einen funktionierenden Alltag. Insgesamt verschiebt sich deshalb auch in Europa das politische Verhältnis zwischen den vier Werten der Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit und Sicherheit im digitalen Wandel zugunsten der Sicherheit.
Die Interpretation dieser Werte bleibt ein stetiger Verhandlungsprozess zwischen dem, was gesellschaftlich akzeptabel, und dem, was technisch möglich ist. Ob Vorratsdatenspeicherung oder Onlinedurchsuchung, ob Datenschutz oder Corona-Tracing: Das Zusammenspiel von Wertesystemen und Technologie machen längst nicht mehr einzelne Nationen mit sich allein aus. Es sind unterschiedlichste Gesellschaftsideen und politische Ordnungen, die ineinander verschränkt sind – und welche Modelle sich durchsetzen, hängt zunehmend davon ab, welche Werte in der benutzten Technologie verbaut sind. Europa muss daher digitale Technologieführerschaft anstreben, damit es heute in die Position kommt, seine Werte auch morgen noch leben zu können. Nur wenn Europa Innovation vorantreibt, kann es wertvolle Tradition bewahren.
Das Konzept der „Smarten Resilienz“ bietet den vielbeschworenen Europäischen Werten einen Rahmen, aus dem sich klare politische Schlussfolgerungen ableiten lassen. Europas Digitalpolitik darf nicht länger von unterschiedlichen nationalen, sektoralen und reaktiven Versatzstücken geprägt werden. Ein erfolgversprechender Europäischer Weg braucht ein konsistentes Gesamtkonzept, dessen Maßnahmen gezielt auf die Stärkung europäischer Werte einzahlen. Ein solches Zielbild muss diese Werte so klar fassen, dass für Technologieentwickler verständlich wird, wie eine faire digitale Gesellschaft umsetzbar ist.
Regelverstöße müssen von europäischen Kartell- und Aufsichtsbehörden verlässlich geahndet werden, damit ein echter globaler Wettbewerb entstehen kann. Die europäischen Werte dürfen nicht als Innovationshemmnis, sondern müssen als Angebot auch für andere Regionen und Staaten begriffen werden: eine Digitalisierung, die weder allein den Eliten eines autoritären Systems wie dem chinesischen noch der amerikanischen Shareholder-Value-Maximierung dient, sondern der gesamten Gesellschaft verpflichtet ist – freiheitlich, verantwortungsbewusst, nachhaltig und sicher. Europa muss sich dieser Stärken besinnen, wenn es digitale Führungsstärke beweisen will. Eine faire digitale Gesellschaft braucht das Primat der Politik – im Wissen um die Macht der Technologie.
Dieser Text von Ralph Müller-Eiselt und Falk Steiner ist ursprünglich als Gastbeitrag in der WirtschaftsWoche erschienen (10.07.2020, S. 42-43).
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