Im flämischen Teil Belgiens wurde Zelten zum Symbolbild von Ungerechtigkeit. Eltern schliefen vor den besten Schulen, um die ersten in der Schlange zu sein, die ihre Kinder dort anmelden konnten. Diese entnervende und unfaire Praxis wurde dadurch gestoppt, dass die Regierung ein algorithmisches System zur Vergabe von Schulplätzen einführte. Beim dritten Stopp unseres AlgoRail durch Europa erklärt Koen Vervloesem die Funktionsweise des Algorithmus und wie er von Schüler:innen und Eltern angenommen wurde.
Belgien hat eine lange Tradition der freien Schulwahl, aber in den letzten Jahren ist diese an ihre Grenzen gestoßen. So verbrachten die Eltern in vielen Stadtvierteln mehrere Nächte in Zelten außerhalb ihrer bevorzugten Schule, denn es galt die Regel „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Dies ist allerdings keine faire Praxis, denn nicht jedes Elternteil kann sich eine Woche von der Arbeit freinehmen, um seine Kinder in der bevorzugten Schule anzumelden.
Ein zentrales Online-System
Als Reaktion auf diese Situation führte die flämische Regierung 2018 ein obligatorisches zentrales Online-System für Regionen oder Städte ein, die ein Kapazitätsproblem in ihren Schulen haben. Das System verwendet einen Algorithmus, der entscheidet, in welche Schule sich ein Kind mit dem zugeteilten ‚Ticket‘ einschreiben kann. Wenn eine Schule das zentrale Online-System nicht nutzt, kann sie einen Schüler nicht ablehnen; wenn sie das System nutzt, muss der Algorithmus befolgt werden.
Aber wie weist man Schüler:innen auf faire Weise algorithmisch zu? Eine offensichtliche Voraussetzung für einen Schulanmeldealgorithmus ist, dass er so viele Kinder wie möglich einer Schule ihrer höchstmöglichen Präferenz zuweist. Andererseits sollte das System so wenige Kinder wie möglich enttäuschen, d.h. die Anzahl der Kinder, die sich an keiner Schule in ihrer Auswahlliste einschreiben können, sollte minimiert werden. Darüber hinaus sollten Familien nicht in der Lage sein, das System mit einer cleveren Strategie auszutricksen.
Umtausch von Schulplatz-Tickets
Zwar kann der entwickelte Algorithmus nicht durch strategisches Verhalten ausgetrickst werden, doch gab es ein anderes Problem: Ein Kind konnte die erste Wahl eines zweiten Kindes erhalten, während das zweite Kind ebenfalls die erste Wahl des ersteren erhielt. Wenn beide ihr Ticket umtauschen könnten, wären sie glücklicher. Der Umtausch von Tickets war jedoch nicht erlaubt, da der Sinn und Zweck des zentralen Registrierungssystems darin bestand, das System gerechter zu gestalten. Wenn Schüler:innen Tickets umtauschen könnten, wäre dies für Familien mit einem großen sozialen Netzwerk vorteilhafter.
Da jedoch durch eine einfache Änderung die Zahl der Schüler:innen, die ihrer bevorzugten Schule zugewiesen werden, ohne Nachteile für andere verbessert werden konnte, wurden diese automatischen Tauschvorgänge 2019 in den Algorithmus aufgenommen.
Benachteiligte Schüler:innen
Es gibt ein weiteres Thema im Zusammenhang mit der Schulwahl: die soziale Segregation. Die flämische Regierung beschloss, die soziale Segregation zu verringern, indem sie die Klassen heterogener zusammensetze. Ursprünglich hatte die Regierung ein System der „doppelten Quote“ ausgearbeitet: Die Schulen sollten freie Plätze in zwei Gruppen einteilen, eine für benachteiligte Schüler:innen und eine für privilegierte Schüler:innen. Diese Korrektur nach sozialen Aspekten sollte zu einer vielfältigeren Durchmischung führen.
Jede Schule legt in Zusammenarbeit mit anderen Schulen aus dem Distrikt fest, wie hoch der Prozentsatz der Schüler:innen ist, die aus benachteiligten Verhältnissen kommen. Die verfügbaren Plätze der Schule werden unabhängig voneinander an benachteiligte und nicht benachteiligte Kinder vergeben. Nur wenn allen Kindern einer Gruppe ein Platz zugewiesen wurde und die Schule dann noch freie Plätze hat, dürfen Schüler:innen der anderen Gruppe diese Plätze belegen.
Diese Entscheidung war umstritten. In einer Vereinbarung vom 7. September 2018 beschloss die flämische Regierung, dass die Grundschulen die doppelte Quote beibehalten müssen, die Sekundarschulen jedoch nicht mehr daran gebunden sind.
Ein Standard-Algorithmus
Der Algorithmus funktioniert ungefähr so: Zunächst erhalten die Schüler:innen für jede Schule in ihrer Liste der bevorzugten Schulen einen zufälligen Rang. Danach hat jede Schule eine geordnete Liste von Schülern, die von niedrig (sie erhalten den Platz) bis hoch (sie erhalten nur dann einen Platz in der Schule, wenn es genügend Plätze gibt) nummeriert ist. Die Schule vergibt so viele Tickets, wie es freie Plätze gibt.
Wenn nun eine Schülerin oder ein Schüler ein Ticket für mehr als eine Schule erhält, behält sie oder er nur das Ticket für die bevorzugte Schule. Die anderen Schulen haben nun ein zusätzliches freies Ticket, das sie dem nächsten Kind auf ihrer Warteliste zuweisen.
Wenn es keine Schüler:innen mehr mit mehreren Tickets gibt, gibt es einen nächsten Schritt: die Optimierung. Dies geschieht durch den Austausch von Tickets zwischen Schüler:innen, die gegenseitig die bessere Wahl haben. Eine ähnliche Optimierung findet auf der Warteliste statt.
Erst dann werden die Tickets den Eltern mitgeteilt, zusammen mit dem Platz auf der Warteliste der bevorzugten Wahl. Mit diesen Tickets können sie sich an ihrer Schule einschreiben.
Obwohl der Algorithmus gut zu funktionieren scheint, sind immer andere Lösungen möglich. Jedoch ist keine Methode perfekt, so dass die Abwägungsfrage von Vor- und Nachteilen vor allem eine politische Entscheidung fordert. Für einige Expert:innen ist entscheidend, dass das System nicht ausgetrickst werden kann, während andere das jeweils bestmögliche Ergebnis für die Schüler:innen bevorzugen.
Seit 2019 ist das zentrale Online-System nicht mehr verpflichtend und die flämische Regierung arbeitet an einer neuen Version.
Der Schulweg
Bei weiterführenden Schulen berücksichtigte der Algorithmus die Entfernung des Schulweges nicht. Dies ist vor allem in größeren Städten ein Problem, wo die Schüler:innen von weit her anziehen. „Wenn die Kapazität unserer Schulen nicht verbessert wird, bin ich dafür, die Entfernung zwischen Wohnort und Schule als Kriterium in den Algorithmus aufzunehmen“, sagte der Bürgermeister von Leuven, Herr Ridouani. Dies bedeutet, dass Schüler aus Leuven und den benachbarten Gemeinden Vorrang vor Schüler:innen hätten, die von viel weiter her nach Leuven pendeln.
Träume verfolgen
Ein weiteres Problem ist, dass eine Vorliebe nicht immer „nur“ eine Vorliebe ist, insbesondere in den weiterführenden Schulen. In Gent gibt es nur eine Schule, an der man im Sportunterricht speziell Fußball belegen kann. Wenn eine talentierte Schülerin, die Spitzenfußballerin werden will, nicht diese erste Wahl bekommt, kann sie diesen Traum viel schwerer verfolgen.
Das war’s für den dritten Stopp unseres AlgoRails durch Europa, auf dessen Reise wir mehr darüber erfahren wollen, wie algorithmische Systeme in unserer europäischen Nachbarschaft eingesetzt werden! Während bei uns die Schulferien vielerorts gerade erst begonnen haben, fahren wir nun direkt weiter auf die Insel.
Diese Story wurde von Julia Gundlach gekürzt und ins Deutsche übersetzt. Der ungekürzte Beitrag wurde auf der Webseite von AlgorithmWatch veröffentlicht.
Die Blogreihe AlgoRail ist Teil des Automating Society Reports 2020 von der Bertelsmann Stiftung und AlgorithmWatch, der im Herbst dieses Jahres veröffentlicht und von Dr. Sarah Fischer koordiniert wird. Neben journalistischen Geschichten wie dieser, gibt der Report einen Überblick über verschiedene Anwendungsbeispiele algorithmischer Systeme sowie aktuelle Debatten, Policy Responses und wichtige Akteure in 15 Ländern. Eine erste Ausgabe des Reports ist im Januar 2019 erschienen.
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