Im März 2019 wurde die Einrichtung eines „Health Data Hub“ von der französischen Nationalversammlung verabschiedet, um KI-Projekten einen einfachen Zugang zu gesundheitsbezogenen Daten zu ermöglichen. Beim fünften Stopp unseres AlgoRail durch Europa nimmt uns Nicolas Kayser-Bril 200 Jahre in die Vergangenheit, als Frankreich wegen einer weit verbreiteten Epidemie begann, Gesundheitsinformationen seiner Bürger:innen zu sammeln.

Im 19. Jahrhundert war Frankreich ein sich rasch industrialisierendes Land. Eisenbahnen beschleunigten den Transport und Fabriken brachten eine große Anzahl von Arbeiter:innen in ungesunden und prekären Behausungen zusammen. Hauptnutznießer dieser Situation waren Bakterien, die sich über große Entfernungen schnell ausbreiten konnten. Regierungen in ganz Europa verstanden die Notwendigkeit, Daten zu sammeln, um die Ausbreitung von Cholera zu verfolgen und rechtzeitig Quarantänen anzuordnen, um das Fortschreiten der Krankheit zu stoppen. Nach der ersten Choleraepidemie im Jahr 1832 begann die französische Regierung, im ganzen Land Gesundheitsdaten zu sammeln.

Gesundheitspolizei

Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte das Thema Gesundheit zum Aufgabenbereich des Innenministeriums – es war eher eine Frage der öffentlichen Ordnung als des Wohlbefindens. Um die Ausbreitung der Tuberkulose in Großstädten zu überwachen und vorherzusagen, erstellten die Behörden für jedes Gebäude eine „Gesundheitsakte“, die einem Strafregister von Einzelpersonen nachempfunden war. Die Gesundheitsakte wurde um 1908 eingestellt, nachdem das Krankenhauspersonal aufgezeigt hatte, dass Daten, die pro Gebäude erhoben wurden, von keinem großen Nutzen waren.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam es zu einem Perspektivwechsel. Zunächst bekam das Gesundheitsniveau der Bevölkerung eine neue Bedeutung, nämlich eine militärische. Zweitens gewann Eugenik an Popularität – ein pseudowissenschaftliches Handwerk, das den Anspruch erhob, eine Bevölkerung zu stärken, indem man ihre ungesunden Mitglieder ausrottete. Gesundheit und Hygiene wurden zu eigenständigen politischen Zielen und erhielten 1920 ein eigenes Ministerium.

Gesundheitsstatistiken, die sich einst nur mit Epidemien und der Kontrolle der Armen befassten, erfassten zunehmend auch das Wohlbefinden. Nicht alle französischen Ärzte waren von diesem Wandel begeistert. Sie beklagten sich darüber, dass eine solche Datenerfassung die ärztliche Schweigepflicht gefährden würde. Ihre Hauptsorge dürfte wohl aber der Statusverlust gewesen sein.

Zentralisierungsbestrebungen

Während des Zweiten Weltkriegs unternahm die französische Regierung große Anstrengungen, um Eugenik-Maßnahmen einzuführen. Ab 1942 führte das Nationale Hygieneinstitut (Institut national d’hygiène, INH) eine groß angelegte Datenerhebung durch, um die Auswirkungen des harten Vorgehens der Regierung gegen Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten zu verfolgen. Es baute auch eine zentrale Datenbank mit Informationen über 35.000 Krebspatienten auf. Nach dem Krieg expandierte das INH und überwachte weiterhin die Gesundheit der Nation (1964 wurde es zum französischen nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung umbenannt). Darüber hinaus erhielten alle Bürger:innen eine Sozialversicherungsnummer als einzigartiges Identifikationsmerkmal, wodurch der alte Traum vom ‚Regieren durch Zahlen‘ wiederbelebt wurde.

In Frankreich wie in anderen Ländern des Westblocks wurde eine zentrale Planung als Notwendigkeit angesehen. Die Regierung sah sich gezwungen, umfassende Daten zur Morbidität (d.h. zu Krankheiten, die die Bevölkerung betreffen) zu erheben. Ein erster Versuch, die Krankenhausärzte zu zwingen, nach jedem Eingriff Formulare auszufüllen, die an eine zentrale Behörde geschickt werden sollten, scheiterte 1945. Weitere Versuche wurden 1958 und 1972 unternommen. Die Ärzt:innen kamen ihren neuen Verpflichtungen jedoch nicht nach. Sie kritisierten die Methodik, beklagten sich über die zusätzliche Arbeitsbelastung und sahen keinen Nutzen für sich.

Digitalisierung

Dies änderte sich in den 1980er Jahren. Ein neuer Versuch, Morbiditätsdaten zu zentralisieren, wurde 1982 gestartet. Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts gaben alle Krankenhäuser Daten an eine zentrale Behörde weiter und 1991 wurde das System obligatorisch.

Die Datenerfassung war jedoch in erster Linie ein Mechanismus zur Kostenkontrolle. Da das Gesundheitsministerium wusste, wie viele Eingriffe jedes Krankenhaus durchführte und wie viel Geld jedes Krankenhaus erhielt, konnte es seine Leistung zumindest in finanzieller Hinsicht einstufen. Alle Informationen über die Krankenhausverfahren sind jedoch buchhalterischer und nicht medizinischer Natur. Diese Konzentration auf Zahlen hat zu Praktiken geführt, die sich auf die Maximierung der Einnahmen konzentrieren, wie AlgorithmWatch im Mai 2019 berichtete.

Qualität der Daten

Die Optimierung von Kodierungen ist für die Datenqualität aber alles andere als zielführend. Trotz dieser Bedenken hinsichtlich der Datenqualität drängte die französische Regierung 2019 darauf, eine noch größere Datenbank aufzubauen, die als „Health Data Hub“ bezeichnet wird. Der Hub zielt darauf ab, jegliche gesundheitsbezogenen Daten für KI-Projekte bereitzustellen.

Die französische Datenschutzbehörde kritisierte das Projekt wegen seiner weit gefassten Ziele. Die Daten aus dem Hub können für alle Projekte mit „öffentlichem Interesse“ verwendet werden, wodurch auch kommerziellen Anwendungen die Tür zu den Daten geöffnet ist. Kritiker:innen wiesen darauf hin, dass persönliche Daten im Hub pseudonymisiert, aber nicht aggregiert werden, so dass sie leicht deanonymisiert werden können.

Toxische Beziehungen

Ein Arzt, der nur als Gilles identifiziert werden wollte, begann einen „Datenstreik“, als der Health Data Hub im Dezember 2019 offiziell startete. Er und andere riefen Kolleg:innen dazu auf, keine Formulare mehr auszufüllen, die in den Hub gespeist werden. Seit den 1980er Jahren sei Frankreich von einer Gesundheitsversorgung, die heilt, zu einer Gesundheitsversorgung, die zählt übergegangen, bemängelt er, wobei er auf die Kostenmanagementsysteme verweist.

Niemand weiß, was der Health Data Hub bringen wird, aber ein Blick in die Vergangenheit führt zu der Einsicht, dass eine große Menge an Gesundheitsdaten nicht automatisch zu einer besseren Gesundheit führt.

Das war’s für den fünften Stopp unseres AlgoRails durch Europa, auf dessen Reise wir mehr darüber erfahren wollen, wie algorithmische Systeme in unserer europäischen Nachbarschaft eingesetzt werden. Für unseren nächsten Stopp fahren wir weiter südlich nach Spanien.


Diese Story wurde von Julia Gundlach gekürzt und ins Deutsche übersetzt. Der ungekürzte Beitrag wurde auf der Webseite von AlgorithmWatch veröffentlicht.

Die Blogreihe AlgoRail ist Teil des Automating Society Reports 2020 von der Bertelsmann Stiftung und AlgorithmWatch, der im Herbst dieses Jahres veröffentlicht und von Dr. Sarah Fischer koordiniert wird. Neben journalistischen Geschichten wie dieser, gibt der Report einen Überblick über verschiedene Anwendungsbeispiele algorithmischer Systeme sowie aktuelle Debatten, Policy Responses und wichtige Akteure in 15 Ländern. Eine erste Ausgabe des Reports ist im Januar 2019 erschienen.


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