Die Proteste von Justice4Couriers haben in Finnland eine Debatte um die Arbeitsbedingungen von Essenslieferant:innen ausgelöst. Beim vierzehnten Stopp unseres AlgoRail durch Europa berichtet Aleksi Knuutila, welche Rolle der Einsatz algorithmischer Systeme spielt und warum sie bei richtigem Einsatz auch zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen könnten.
Während die meisten Arbeitnehmer:innen in Finnland Rechte wie Krankenurlaub und von Arbeitgeber:innen bezahlte Sozialversicherung für selbstverständlich halten, sind Foodora-Kurier:innen davon ausgeschlossen. Denn rechtlich gesehen sind sie keine Angestellten von Foodora, sondern vielmehr selbständige Kleinunternehmer:innen.
Miran Hamidulla, finnischer Geschichtsstudent und Aktivist, ist Fahrradkurier bei Foodora und arbeitet jede Woche 20 bis 25 Stunden. Er ist auch Sprecher der Justice4Couriers-Kampagne. Sich dafür einzusetzen, kann er nur, weil sein Lebensunterhalt nicht vollständig von Foodora abhängt. Nicht jeder hat so viel Glück. Einwander:innen in Finnland fürchten sich davor, Wort zu ergreifen. Sie sind am anfälligsten für die Auswirkungen des Einsatzes algorithmischer Systeme bei der Arbeit.
Lebensmittellieferungen sind erst der Anfang
Foodora ist eine Plattformfirma, die als Vermittlerin zwischen Restaurants, Kund:innen und Kurier:innen fungiert. Foodora, eine Tochtergesellschaft des in Berlin ansässigen Unternehmens Delivery Hero, kam 2014 nach Finnland. Im selben Jahr hat die finnische Lebensmittel-Lieferplattform Wolt, Foodoras Hauptkonkurrent, ihren Dienst eingeführt.
Plattformfirmen beauftragen ihre Auftragnehmer:innen nach Bedarf. Die Zuweisung der einzelnen Aufgaben sowie die Aufteilung der Arbeitsschichten zwischen den Arbeiter:innen wird weitgehend von Algorithmen entschieden. Sie sagen voraus, zu welcher Zeit und an welchem Ort die Nachfrage entstehen wird und entscheiden, welche Personen am besten in der Lage sind, die Aufträge zu erledigen.
Diese Arbeitsorganisation wird in Finnland auch in anderen Sektoren erprobt, z.B. bei Taxifahrten und Haushaltsreinigungen. Auch die Verteilung der morgendlichen Zeitungen wird in Helsinki durch Apps organisiert, wobei die Arbeitsbedingungen ähnlich prekär ist.
Menschen, deren Arbeit durch Algorithmen gesteuert wird, sind in der Regel Selbstständige, die als unabhängige Unterauftragnehmer:innen arbeiten. Dies ermöglicht es den Plattformfirmen, die Arbeitsvorschriften zu umgehen und Kurier:innen einen Teil der Kosten und Risiken selbst tragen zu lassen.
Nach der finnischen Gesetzgebung muss eine Person als Arbeitnehmer:in mit entsprechenden Rechten eingestuft werden, wenn sie unter Anleitung und Aufsicht einer Arbeitgeberin arbeitet. Finnische Plattformfirmen haben sich dafür eingesetzt, dass diese Bedingung bei vermittelten, flexiblen Arbeitsverträgen nicht zutrifft. Beispielsweise sind Foodora-Kurier:innen nicht verpflichtet, eine bestimmte Schicht zu übernehmen oder ein Mindestmaß an Stunden in der Woche zu arbeiten. Dank der algorithmischen Organisation können Plattformen weniger Schichtvorgaben als reguläre Arbeitgeber:innen machen und haben immer noch genügend Mitarbeiter:innen, um die Dienstleistung zu erbringen. Aus der Sicht der Kurier:innen ist diese Regelung jedoch weit von der Freiheit entfernt, die manche mit Selbständigkeit assoziieren.
Wenn ein Algorithmus die Ansagen macht
Jeden Mittwoch bietet Foodora seinen Kurier:innen eine Auswahl an Arbeitsschichten an. Die App zeigt eine Liste von zwei- bis vierstündigen Slots mit einem zugewiesenen Ort an, aus der die Kurier:innen wählen können. Die richtigen Schichten zu bekommen ist nicht nur für das Privatleben wichtig, sondern auch, weil einige Schichten lukrativer sind als andere.
Die Mitarbeiter:innen von Foodora sind nicht alle gleichgestellt, wenn es um die Wahl der Arbeitszeiten geht. Die Schichten werden in Bündeln freigegeben. Das erste Bündel, das am Mittwochmorgen veröffentlicht wird, wird nur den Kurier:innen angeboten, die von einem Bewertungsalgorithmus als die 10 leistungsstärksten Prozent eingestuft werden. Die Arbeiter:innen mit etwas niedrigeren Bewertungen müssen bis Mittwochnachmittag warten und aus den verbleibenden Schichten wählen. Die verbliebenen Mitarbeiter:innen treffen ihre Wahl am Abend, wenn zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch eine Wahl besteht. Denn es kann vorkommen, dass es dann keine Schichten mehr gibt. Dann führt eine niedrigere Bewertung durch den Foodora-Algorithmus dazu, dass man nichts zu tun hat. Besonders belastend ist dabei, dass die Funktionsweise des Bewertungsalgorithmus von Foodora nicht bekannt ist.
Die Kurier:innen müssen Roadrunner, die Foodora App, installieren, um Anweisungen für ihre Arbeit zu erhalten. Die App sammelt eine Vielzahl von Informationen, die der Algorithmus berücksichtigen könnte. Foodora verfolgt, wie lange es dauert, bis die Kurier:innen Aufträge annehmen und wie lange sie Pause machen.
Die Einzelheiten des Bewertungsalgorithmus von Foodora werden jedoch nicht veröffentlicht. Während der Werktage erhalten die Kurier:innen E-Mails, in denen ihnen mitgeteilt wird, wie ihre Arbeit im Vergleich zu anderen Kurier:innen ausfällt. Sie sollen dazu angehalten werden, noch besser zu arbeiten. Wenn Kurier:innen eine Schicht weniger als 24 Stunden im Voraus absagen, müssen sie selbst einen Ersatz finden oder riskieren, Punkte zu verlieren. Manche Menschen befürchten, sich nach einem Fahrradunfall einen Tag Ruhe zu gönnen, da es sich negativ auf ihre Bewertung auswirken könnte. In anderen Fällen haben Fehler in der Roadrunner-App die Punktzahl in den Keller sinken lassen. Da Foodora in Finnland wenig Personal beschäftigt (85 Personen im Jahr 2017), kann es schwierig sein, eine Punktzahl von einem Menschen korrigieren zu lassen.
Gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen
Justice4Couriers ist eine Gruppe von Kurier:innen, die sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzt. Die Gruppe wurde im September 2018 als Reaktion auf eine Lohnkürzung durch Foodora und Wolt gegründet. Die an der Kampagne teilnehmenden Kurier:innen formulierten fünf Forderungen, u.a. die Rücknahme der Gehaltskürzungen, die Möglichkeit eines Arbeitsvertrags für Kurier:innen und Transparenz in der Funktionsweise der Bewertungsalgorithmen.
Bislang wurde nur eine der Forderungen von Justice4Couriers erfüllt. Foodora bietet nun einen physischen Raum, in dem die Kurier:innen zwischen und nach den Schichten eine Pause einlegen können. Als Reaktion auf die Covid19-Pandemie gab Foodora seinen Kurieren 12 Euro für den Kauf von Schutzausrüstung, viel weniger als das, wofür Justice4Couriers plädiert hatte.
Die Kampagne hat jedoch das Thema der Plattformarbeit erfolgreich auf die politische Agenda gebracht. Die neue finnische Regierung, die im Dezember 2019 ihr Amt antrat, plant, den Status der Plattformarbeit zu prüfen und Schlupflöcher zu schließen, die es den Arbeitgeber:innen ermöglichen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen.
Justice4Couriers ist Teil eines internationalen Netzwerks von Gruppen, die mit neuen Wegen experimentieren, um das Leben der Arbeitnehmer:innen in der Plattformwirtschaft zu verbessern. Rechte von Arbeiternehmer:innen sind zwar wichtig, aber die Gruppen blicken auch weiter in die Zukunft. Eine der Schwesterorganisationen von Justice4Couriers ist RidersXDerechos in Barcelona. Sie bauen ihre eigenen Algorithmen, Apps und technische Infrastruktur auf, die sich im kollektiven Besitz befinden und von den Kurier:innen selbst betrieben werden sollen.
Justice4Couriers stellt den Einsatz der Algorithmen als solche nicht in Frage. In einem Blog-Beitrag erwähnen sie, dass „die Anwendungen so gestaltet werden könnten, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen den Kurier:innen ermöglicht wird, anstatt die Mitarbeiter:innen über Schichten und Aufträge konkurrieren zu lassen“. Foodora antwortete nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.
Algorithmen werden derzeit von Plattformen eingesetzt, die versuchen, den Gewinn zu maximieren, indem sie das Risiko auf ihre Beschäftigten verlagern. Andere Algorithmen sind denkbar, die die Arbeitsbedingungen für Kurier:innen und andere Personen verbessern und ihnen eine größere Kontrolle über ihr Arbeitsleben ermöglichen könnten.
Das war’s für den vierzehnten Stopp unseres AlgoRails durch Europa, auf dessen Reise wir mehr darüber erfahren wollen, wie algorithmische Systeme in unserer europäischen Nachbarschaft eingesetzt werden. Nächste Woche berichten wir aus Schweden.
Diese Story wurde von Julia Gundlach gekürzt und ins Deutsche übersetzt. Der ungekürzte Beitrag wurde auf der Webseite von AlgorithmWatch veröffentlicht.
Die Blogreihe AlgoRail ist Teil des Automating Society Reports 2020 von der Bertelsmann Stiftung und AlgorithmWatch, der im Herbst dieses Jahres veröffentlicht und von Dr. Sarah Fischer koordiniert wird. Neben journalistischen Geschichten wie dieser, gibt der Report einen Überblick über verschiedene Anwendungsbeispiele algorithmischer Systeme sowie aktuelle Debatten, Policy Responses und wichtige Akteure in 15 Ländern. Eine erste Ausgabe des Reports ist im Januar 2019 erschienen.
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