In französischen Vororten dominieren häufig negative und pessimistische Erzählungen, die der Neuerfindung und Wiederbelebung dieser Stadtteile im Wege stehen. Hier setzt das Projekt „La Banlieue du Turfu“ der TheNewNew Fellows Makan Fofana und Hugo Pilate an, mit denen Ouassima Laabich-Mansour gesprochen hat. Zusammen mit Jugendlichen erarbeiten sie in Workshops und im virtuellen Raum alternative Erzählungen zu den Zukunftsvisionen der Vororte und setzen damit den vorherrschenden Narrativen etwas Positives entgegen.
Wie hat euer Projekt „La Banlieue du Turfu“ begonnen?
Makan: Es gibt eine inoffizielle und eine offizielle Erzählung zum Start unseres Projekts. Die inoffizielle Erzählung ist, dass ich Depressionen hatte und dadurch wieder von vorne anfangen musste – mich selbst und mein Umfeld überdenken, einige meiner Werte und Kenntnisse aufgeben.
Schlussendlich wollte ich mein eigenes Projekt machen, inspiriert von Philosophen wie Sokrates, Nietzsche und Platon. Ich habe dabei niemanden um Rat gefragt – nicht meine Freund:innen, nicht eine Organisation –, weil ich dachte, dass sie meinen Ansatz ohnehin nicht verstehen würden. Und ich erwartete Antworten wie:
„Dein Vorhaben ist nicht schlüssig. Frag Sozialarbeiter:innen oder das Arbeitsamt um Hilfe.“
Der offizielle Weg zum Projektbeginn beruht auf einer Mischung aus Philosophie und unternehmerischer Praxis. Zwei Jahre nach meiner Depression lief es bei mir besser und ich kam als Start-up-Manager zu STATION F. Das ist ein Inkubator in Paris und das Zentrum der französischen Start-up-Szene. Alle wollten sehen, wie das nächste große Ding von dort kommt – was schließlich auch bedeutet, dass die Zukunft von dort kommt.
Ich wohne in der Region Paris, anderthalb Stunden vom Zentrum entfernt, und eines Tages, im Zug, dachte ich mir: „Warum muss ich anderthalb Stunden reisen, um in die Zukunft zu kommen? Warum kann die Zukunft nicht in meiner Nachbarschaft beginnen?“
Und wie ging es von dort aus weiter mit „La Banlieue du Turfu“?
Makan: Ich habe mir gesagt, dass ich für die Entwicklung von La Banlieue du Turfu konkrete Hilfe brauche, ein Programm, das es mir ermöglicht, meine Ideen zu verwirklichen. Also nahm ich an Time 2 Start teil, einem sechsmonatigen Start-up-Programm für Unternehmer:innen aus den Vorstädten. Aber dort war nicht der richtige Ort für mich. Ich würde sagen, dass das Nachdenken für mich wichtiger ist als der Verkauf von Prototypen. In der Welt der Start-ups muss man schnell sein: Pitchen in einer Minute und Dinge konkret definieren. Aber das konnte ich nicht, weil ich Gedanken und Visionen im Kopf hatte – und kein Produkt oder einen Prototyp. Schließlich nahm ich einen Studienkredit auf und schrieb mich an einer Designschule ein.
Für meine Diplomarbeit interessierte ich mich dann für die Idee der Zukunft im Quartier. Da wurde mir klar, dass eine Zukunft zu haben, bedeutet, die Nachbarschaft zu verlassen. Rauszukommen ist ein Zeichen von Erfolg. So zeigt man, dass man in den Augen der Gesellschaft materiell und symbolisch erfolgreich ist. Das bedeutet also, dass „Banlieue & Zukunft“ ein Oxymoron ist. Sie sind Antagonisten bzw. Gegensätze. „Banlieue & Träume“ ist auch ein weiterer Antagonismus, der unsere Gedanken strukturiert:
„Um meine Träume zu erfüllen, muss ich raus.“
Als Nächstes lernte ich Hugo kennen und gemeinsam gestalteten wir vier Workshops, um La Banlieue du Turfu mit Teilnehmer:innen des Spiels Fortnite zu prototypisieren. Eines Tages schickte Hugo mir die Ausschreibung für das TheNewNew Fellowship. Es war das erste Mal, dass ich mich auf eine Ausschreibung für La Banlieue du Turfu beworben habe. Dabei war ich nicht zuversichtlich und zudem müde, regelmäßig zu scheitern.
Hugo, was ist deine Perspektive auf euer Projekt?
Hugo: Als wir die Workshops organisierten, hatten wir den Eindruck, dass für Leute, die nicht aus den Vororten kommen – und das war teilweise am Anfang meine Perspektive –, La Banlieue du Turfu darin besteht, die Dinge in den Vororten „weniger schlecht“ zu machen. Wenn wir nicht über diesen vagen und etwas einschränkenden Begriff der urbanen Kultur sprechen, wie Rap, Kunst oder Sport, werden sich die Leute nicht von diesen Vororten inspirieren zu lassen.
Anfangs war ich auch skeptisch, was die Vorstellungskraft der Menschen angeht, aber durch Beobachtung und gegenseitiges Zuhören wird einem klar: „Ja, wir müssen anfangen, uns für die Art und Weise zu interessieren, wie die Vorstädte ihre eigenen Turfus haben.“
Das ist eines der Elemente, die in unseren Workshops wirklich interessant sind.
Apropos Workshops: Könnt ihr uns etwas über die Visionen der jungen Teilnehmer:innen erzählen?
Makan: Ich kann von den vorherrschenden Narrativen berichten, denen ich begegnet bin. Das erste Narrativ erzählt von Vororten als Orte des Mangels: „Wir haben dies nicht, wir haben das nicht.”
Das ist pessimistisch. Gleichzeitig gibt es eine zweite, optimistische Erzählung. Diese versucht, auf den Pessimismus zu antworten, indem sie sagt:
„Es gibt kein Problem in den Banlieues. Die Leute sind kreativ. Sie sind Unternehmer:innen.“
Für mich ist das kein Narrativ, es ist eine Reaktion auf das schlechte Image. Dann gibt es noch das dritte Narrativ, über das wir schon gesprochen haben, nämlich den Mythos des Erfolgs: „Um Erfolg zu haben, muss ich aus dem Viertel raus.“
Das ist eine Besessenheit. Es kommt ständig zur Sprache – aus dem Mund von Jugendlichen, Eltern, Politikern sowie in Medien, Musik und Filmen.
Einmal, ganz am Anfang von La Banlieue du Turfu, habe ich einen Workshop mit einer Klasse gemacht, zu dem ich mit leeren Händen kam. Ich nahm ein Flipchart und schrieb:
„Was sind für euch die Vororte der Zukunft?“
Ich sagte: „Jetzt werden wir über die Vorstädte und die Zukunft sprechen. Was ist das für euch?“
Niemand wusste zu antworten. Bis jemand das Wort ergriff – ich werde mich immer daran erinnern, weil ich sehr überrascht war. Ein Schüler sagte: „Eine größere Wohnung. Im Grunde genommen, ein großes Haus.“
Die Zukunft der Vororte ist also ihr Gegenteil: ein Mittelklasse-Viertel. Die Zukunft der Vorstädte war ein blinder Fleck in der Kultur des Viertels.
Was gibt es noch Weiteres zu den Erkenntnissen aus eurem Projekt zu sagen?
Hugo: Das Projekt hatte bereits begonnen, sich als partizipative Plattform der Fantasie und des alternativen Turfu zu entwickeln. Und als ich diese Arbeit entdeckte, sagte ich mir, dass es Spaß machen würde, sie zu prototypisieren oder auf eine andere Art und Weise zu gestalten, zum Beispiel durch ein Videospiel wie Fortnite. Einerseits erlaubt uns das Spiel eine ziemlich greifbare Interpretation der Konzepte, die sich aus den Diskussionen in den Workshops ergeben. Andererseits offenbart die Verwendung einer weltberühmten Plattform für diese Art von fiktiver Welterschaffung ebenso interessante kulturelle Vorurteile. Und so haben wir einige Hybrid-Workshops durchgeführt, die sich auf beide Welten bezogen. Die Teilnehmer:innen wurden gebeten, ihre Vorstellungen in Mikrogeschichten zu entwerfen, die sie dann im Videospiel bauen können.
Dieses Gespräch ist Teil einer Interviewreihe im Rahmen des TheNewNew-Fellowships, das auf Initiative der Bertelsmann Stiftung und des gemeinnützigen Superrr Lab, in Kooperation mit der Allianz Kulturstiftung und dem Goethe-Institut erfolgt.
Auf diesem Blog werden einige Beiträge der Interviewreihe auf Deutsch veröffentlicht. Das Interview ist auf dem TheNewNew Blog in englischer und französischer Sprache verfügbar.
Dieses Interview wurde von Markus Overdiek übersetzt und gekürzt.
Dieser Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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