Welche Rolle spielte Künstliche Intelligenz (KI) bei den größten Wahlen der Welt? Kann sie dazu beitragen, demokratische Prozesse inklusiver zu gestalten? Welche Möglichkeiten bietet sie in der politischen Kommunikation?  Und was können wir aus der Geschichte über die Wechselwirkung zwischen neuen Technologien und der Zukunft der Arbeit lernen?  In der heutigen Erlesenes-Ausgabe widmen wir uns all diesen Fragen.  Außerdem: Spätestens seit Donald Trumps Amtseinführung wissen wir, dass selbst die Schätzung von Menschenmassen politisch instrumentalisiert werden kann. In Brasilien wurde nun ein neues KI-Tool eingesetzt, das die wahre Größe von Protesten in Brasilien misst.

Viel Spaß beim Lesen wünschen
Elena und Teresa

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KI & Demokratie: Indiens Lektionen für die Welt

Indian election was awash in deepfakes – but AI was a net positive for democracy, The Conversation, 10.6.2024

In den letzten Wochen fanden nicht nur in Europa Wahlen statt. Am 5. Juni endeten in Indien die größten Wahlen der Welt mit mehr als 640 Millionen ausgezählten Stimmen. Die Wahl war auch deswegen interessant, weil KI vielseitig eingesetzt wurde, um Kandidat:innen, Prominente und sogar verstorbene Politiker:innen nachzuahmen. Das Ziel dabei: Wähler:innen persönlich und emotional anzusprechen und zu beeinflussen (Erlesenes berichtete). Reden der Kandidat:innen wurden durch KI-gestützte Tools in verschiedene regionale Sprachen übersetzt – sogar in Echtzeit, wie z. B. die Reden des Premierministers Narendra Modi. Das ermöglichte eine neuartige Kommunikation mit Wähler:innen. Können also KI-Tools demokratische Prozesse partizipativer gestalten? Obwohl diese auch für andere Zwecke genutzt wurden, wie z. B. die Verbreitung von diskriminierenden Botschaften, zeigen die Wahlen in Indien, wie KI-Tools zur personalisierten Ansprache und Förderung des Dialogs genutzt werden können. Gerade für die Repräsentation ländlicher und einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen kann das von großer Bedeutung sein – trotzdem bleibt es eine Gratwanderung zwischen Information und Desinformation.




Kann Physik Chatbots besser machen?
Scientists use generative AI to answer complex questions in physics, MIT News, 16.5.2024

KI-Systeme werden immer häufiger in der Wissenschaft zur Klassifizierung genutzt (Erlesenes berichtete). Diesmal schauen wir uns das Beispiel der Klassifizierung von Phasenübergängen in physikalischen Systemen an. Phasenübergänge, wie der von Wasser zu Eis, sind Beispiele für physikalische Veränderungen. Wissenschaftler:innen müssen sich oft auf manuelle Techniken verlassen, um diese zu bestimmen, was zeitaufwendig und fehleranfällig ist. Das Team um Frank Schäfer vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Julian Arnold von der Universität Basel hat ein neues, KI-basiertes Modell entwickelt, das keine großen Trainingsdatensätze benötigt und effizienter als herkömmliche Methoden arbeitet. Dadurch ist es leistungsfähiger als andere Verfahren des maschinellen Lernens. Forscher:innen können nun Fragen wie z. B. „Wurde diese Probe bei hoher oder niedriger Temperatur erzeugt?“ stellen, ähnlich wie man ChatGPT bitten könnte, ein mathematisches Problem zu lösen. Interessanterweise wären Wissenschaftler:innen sogar in der Lage, dieses Modell dazu zu nutzen, ChatGPT zu verbessern: Sie könnten ermitteln, wie bestimmte Parameter eingestellt werden müssten, damit der Chatbot bessere Ergebnisse liefert.


Aus der Geschichte lernen: KI und die Zukunft der Arbeit

AI Is Making Economists Rethink the Story of Automation, Harvard Business Review, 27.5.2024

Wird uns KI Arbeitsplätze wegnehmen? Viele Menschen haben Angst, dass sie wegen KI bald keinen Job mehr haben werden. In diesem Kontext ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, wie Wirtschaftswissenschaftler:innen schon früher über Technologie und Arbeit nachgedacht haben. Jahrzehntelang wiesen sie darauf hin, dass frühere Technologiewellen nicht zu Massenarbeitslosigkeit geführt hatten. Doch als die (Einkommens-)Ungleichheit in weiten Teilen der Welt zunahm, begannen sie, ihre Theorien zu revidieren. So berücksichtigen neuere Theorien die Tatsache, dass Technologien durchaus Arbeitnehmer:innen verdrängen und die Löhne senken können. Langfristig führe das aber zur Erhöhung des Lebensstandards – so zumindest das optimistische Fazit der meisten Ökonom:innen. Aber wie schnell und in welchem Umfang? Das hängt von zwei Faktoren ab, die mit folgenden zwei entscheidenden Fragen zusammenhängen: Schaffen Technologien neue Arbeitsplätze? Und haben Arbeitnehmer:innen ein Mitspracherecht bei deren Einsatz?


Die Grenzen des politischen Microtargetings

OII researchers investigate the extent to which political micro-targeting with LLMs offers persuasive returns for political parties, 9.6.2024

Die jüngsten Fortschritte bei großen Sprachmodellen (Large Language Models, LLM) wie GPT-4 eröffnen eine neue Ära der politischen Ansprache. Denn damit können unterschiedliche demografische Gruppen – wie eine 28-jährige liberale Frau oder ein 61-jähriger konservativer Mann – mit maßgeschneiderten politischen Botschaften erreicht werden. Die Forscher:innen Kobi Hackenburg und Helen Margetts des Oxfort Internet Institute  entwickelten eine Webanwendung, die demografische und politische Daten in Echtzeit in GPT-4 integriert. Damit konnten Tausende auf individuelle Nutzer:innen zugeschnittene Botschaften generiert werden. Ihre Experimente zeigten jedoch, dass individualisierte Botschaften insgesamt nicht überzeugender waren als allgemeine, nicht zielgerichtete Nachrichten. Damit ist klar, dass die derzeitigen Fähigkeiten und Wirkungen der Large Language Models (LLM) begrenzt sind. Da allerdings die Regulierung politischer Kommunikation in Bezug auf Transparenz und Kontrolle herausfordernd bleibt (Erlesenes berichtete), sind weitere empirische Untersuchungen unabdingbar, um das Potenzial und die Risiken dieser KI-gestützten Kommunikation besser zu verstehen.


KI enthüllt wahre Größe der Proteste in Brasilien

A new AI tool that accurately measures crowd sizes sheds light on protests roiling Brazil, Rest of World, 11.6.2024

Vielleicht haben Sie es in den Nachrichten gesehen: In Brasilien kam es zu Demonstrationen, nachdem Richter:innen den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro von der erneuten Kandidatur ausgeschlossen hatten. Die Behörde für öffentliche Sicherheit des Bundesstaates São Paulo, regiert von Verbündeten Bolsonaros, behauptete, dass 600.000 Menschen für den ehemaligen Präsidenten protestiert hätten. Forscher:innen der Universität von São Paulo schätzten jedoch, dass die tatsächliche Zahl bei 185.000 lag, also weit unter den offiziellen Angaben. Um diese genaueren Schätzungen zu ermitteln, nutzten sie ein KI-gestütztes Tool, das zuvor zum Zählen von Rindern eingesetzt wurde. Das Tool, noch ohne Namen, verwendet Drohnenaufnahmen, um Einzelpersonen zu identifizieren, und schätzt ihre Gesamtzahl mithilfe von KI. In der aktuellen politischen Landschaft Brasiliens, die von einseitigen Darstellungen und politischen Interessen geprägt ist, könnte dieses Tool eine ausgewogenere Analyse ermöglichen. Die Software hat bereits das Interesse anderer brasilianischer Analyst:innen und Nachrichtenredaktionen geweckt.


Follow-Empfehlung: Tara Taubman-Bassirian

Tara Taubman-Bassirian setzt sich für nachhaltige KI und Datenschutz ein.


Verlesenes: Wenn es doch nur so wäre.


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