Public Interest Technology, Technologien für das Gemeinwohl, digitale öffentliche Infrastrukturen – egal wie man es nennt: Wir brauchen mehr davon. Daher war es eine Freude, Audrey Tang in unserem Berliner Büro der Bertelsmann Stiftung zu begrüßen, um über Pluralität, Technologie und Demokratie zu diskutieren und von Taiwans Ansatz zu lernen.

„Mehr Public Interest Technology“, „Wir brauchen eine digitale öffentliche Infrastruktur“, „Mehr gemeinwohlorientierte Technologie“ – all das wird zunehmend gefordert. Nach Jahren von quasi-monopolistischen Techunternehmen, Pfadabhängigkeiten, Polarisierung und Spaltung ist der Bedarf nach einem besseren Techökosystem enorm. Mit reframe[Tech] möchten wir uns zukünftig auch auf die Stärkung und Verbesserung der digitalen öffentlichen Infrastruktur konzentrieren. Ein guter Ausgangspunkt für dieses Vorhaben ist es, zu schauen, was andere gleichgesinnte Staaten und Akteure tun, und aus ihren Erfahrungen zu lernen. Deshalb war es eine Freude, Audrey Tang, ehemalige Digitalministerin von Taiwan, Civic Hacker und Autorin, zu interviewen und dabei zu erfahren, wie das Konzept der Pluralität zur Entwicklung demokratiestärkender Technologien und digitaler öffentlicher Infrastruktur beitragen kann. Anlass war die Veröffentlichung des Buches „Plurality“, das Tang zusammen mit Glen Weyl und über 100 weiteren Mitwirkenden verfasst hat. Das Buch bietet einen Rahmen, wie Technologie genutzt werden kann, um Demokratie zu stärken.

*** Das Interview ist auch als Video auf YouTube verfügbar. Den Link finden Sie unter diesem Beitrag.***

Das Konzept der Pluralität: Zusammenarbeit über soziale Unterschiede hinweg

In „Plurality“ beschreiben Tang und Weyl Pluralität als einen dritten Weg jenseits von Libertarismus und Technokratie. Laut Tang bedeutet Pluralität über soziale Unterschiede hinweg zusammenzuarbeiten. Zur Veranschaulichung nennt sie ein Beispiel aus Taiwan: „Als [der Fahrdienst] Uber X nach Taiwan kam, gab es große Konflikte zwischen Taxi- und Uber-Fahrer:innen. Soziale Medien heizten damals die Polarisierung an, anstatt Brücken zwischen den verschiedenen Lagern zu bauen.“ Im Gegensatz dazu brauchen wir Technologien, die es den Menschen ermöglichen, gemeinsam zu diskutieren, unterschiedliche Meinungen und Ideen zu hören und Konsens zu finden.

In einer interaktiven Web-Publikation haben wir gezeigt, wie sogenannte „Bridging-Algorithmen“ zu einem besseren digitalen Diskurs beitragen können – unter anderem anhand des Uber-Beispiels aus Taiwan.

Ihr Vergleich: Digitale Infrastruktur sollte als öffentlicher Platz dienen, nicht als lauter Nachtclub. Wie schaffen wir das, mag man sich fragen. „Indem wir pro-soziale soziale Medien aufbauen, die Konsensfindung ermöglichen oder zumindest Brücken bauen.“, so Tang. Taiwan hat dies über das Open-Source-Tool „Polis“ im Rahmen des „vTaiwan“-Projekts versucht. „vTaiwan“ ist ein dezentraler Konsultationsprozess, der Online- und Offlineinteraktionen kombiniert und es den Bürger:innen und der Regierung Taiwans ermöglicht, gemeinsam über nationale Themen zu diskutieren und zu beraten. Die Initiative ermöglicht nuancierte Diskussionen, um die Konsensfindung bei kontroversen Themen zu ermöglichen, wie zum Beispiel dem Konflikt rund um den Fahrdienst Uber. „Wenn Menschen diskutieren und unterschiedliche Ideen hören, werden sie gegen Polarisierung immun“, erklärt Tang. Dieser Ansatz, so glaubt sie, sollte auch für digitale öffentliche Infrastruktur gelten, die wiederrum gegen Polarisierung schützt und Mitgestaltung fördert.

Die Rolle der Zivilgesellschaft: Vertrauenswürdige und neutrale Informationsvermittler

Tang betonte die entscheidende Rolle von Zivilgesellschaft bei diesem Wandel. „Stiftungen und der Non-Profit-Sektor sind unerlässlich, weil sie vertrauenswürdige und neutrale Informationsvermittler:innen sind“, sagte sie. In Taiwan ermöglicht das kollaborative Faktenprüfungs-Tool „Cofacts“ Bürger:innen, Fälle von Betrug, Phishing und Desinformation an ein Open Source Dashboard zu melden. Dieses Tool wird sowohl von Unternehmen als auch von der Öffentlichkeit geschätzt, da es von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben wird, die unabhängig von der Regierung und Profitinteressen agieren.

Zivilgesellschaft sollte proaktiv bessere Lösungen demonstrieren, so Tang, anstatt nur gegen Probleme zu protestieren. „In der Sonnenblumenbewegung [Die Sonnenblumenbewegung war ein taiwanesischer Studierendenprotest 2014 gegen ein Handelsabkommen mit China, Anmerkung der Redaktion], waren wir keine Protestierenden, wir waren Demonstrierende. Protestieren bedeutet, gegen etwas zu sein, demonstrieren bedeutet, etwas Besseres zu zeigen“, erklärte sie. Der Staat müsse natürlich (finanzielle) Unterstützung für die Zivilgesellschaft bereitstellen, damit diese in der Lage ist, alternative Werkzeuge zu entwickeln und effektiv Beispiele dafür zu zeigen, wie Public Interest Technology wirklich aussehen könnte.

Für zusätzliche Perspektiven zu diesem Thema ist unsere zugehörige Podiumsdiskussion mit dem Titel Scaling collaborative technology to enable the future of multilateralism“ zu empfehlen. Diese Diskussion beleuchtete, wie kollaborative Technologien genutzt werden können, um multilaterale Zusammenarbeit voranzutreiben und globale Herausforderungen anzugehen.

Verringerung der Machtkonzentration bei Big Tech durch „Public Money, Pulic Code“

Investitionen in öffentlichen Code seien entscheidend, um die Macht von Big Tech zu brechen, so Tang. „Öffentliches Geld sollte öffentlichen Code finanzieren“, erklärte sie. In Taiwan wird dieses Prinzip durch verschiedene Initiativen umgesetzt, die sicherstellen, dass der öffentliche Sektor Technologien nutzt, die offen und interoperabel sind. Beispielsweise besteht das Land auf das Open Document Format (ODF), um Interoperabilität zu gewährleisten. „Wir haben nicht alle gezwungen, LibreOffice oder OpenOffice zu verwenden, aber wir haben verlangt, dass Google Docs und andere Dienste ODF für Import und Export unterstützen“, sagte Tang. Dieser Ansatz stellt sicher, dass proprietäre Anbieter offene Anbieter nicht ausschließen können, was die Verhandlungsmacht des öffentlichen Sektors erhöht. Tang plädiert dafür, dass sich mehr Stiftungen und NGOs in diesem Bereich engagieren, „damit wir Technologien erhalten, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen, anstatt die Gesellschaft zu zwingen, auf technologische Veränderungen zu warten.“

Taiwans Umgang mit generativer KI

Und weil generative KI allgegenwärtig ist, konnte ich es mir nicht entgehen lassen, Tang nach ihren Erkenntnissen zu fragen, wie die oben besprochenen Werte von Offenheit, Vielfalt und öffentlichem Interesse auch in Basismodelle integriert werden können – ein Bereich, der Teil einer digitalen öffentlichen Infrastruktur sein muss. Taiwan hat sein eigenes Basismodell entwickelt, die „Trustworthy AI Dialogue Engine“ (TAIDE). „Wir richten TIADE aus, indem wir die Menschen über einer Wiki-Umfrage entscheiden lassen, wie sie möchten, dass KI interagiert, und erstellen daraus ein Verfassungsdokument“, erklärte Tang. Ein Verfassungsdokument für Basismodelle ist eine gemeinschaftlich erstellte Richtlinie, die sicherstellt, dass diese Modelle im Einklang mit den Werten und ethischen Standards einer Gesellschaft arbeiten. Dieser Prozess, bekannt als „Alignment Assembly“, stellt sicher, dass das KI-Modell mit den taiwanesischen Normen und Werten übereinstimmt – und zeigt, wie Public Interest Technology so entwickelt werden kann, dass sie gesellschaftliche Werte widerspiegelt und Inklusivität und Transparenz fördert.

Das Gespräch mit Audrey Tang und ihre Perspektive unterstreicht die Notwendigkeit, verantwortungsbewusste digitale öffentliche Infrastruktur sowie gemeinwohlorientierte Technologie zu stärken. Auf dem Weg zu einem gemeinwohlorientierten Techökosystem können wir viel von Taiwan lernen: Brücken bauen, die Zivilgesellschaft stärken, bessere Lösungen entwickeln und Interoperabilität sicherstellen sind wesentliche Schritte auf dem Weg zu einer inklusiveren und demokratischeren digitalen Zukunft.


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