Dieser Gastbeitrag von Basanta Thapa und Ines Hölscher erscheint im Rahmen unserer Blogparade „Tech for Good? Echt jetzt?! Oder jetzt erst recht?!“.

Eine alleslösende App für die Herausforderungen ländlicher Räume – davon träumen viele, die sich für gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land einsetzen. Könnten nicht elegante technische Lösungen den Teufelskreis aus schrumpfender Bevölkerung, schwindenden (öffentlichen) Dienstleistungen und sinkender Attraktivität durchbrechen?

Abbildung: Abwärtsspirale ländlicher Räume (nach Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung & Wüstenrot-Stiftung 2019)

Blühende Digitallandschaften

In Deutschlands ländlichen Räumen blüht eine bunte Vielfalt an digitalen Lösungsansätzen und konkreten Projekten. Allein die Studie „Ländlich, digital, attraktiv“ des Kompetenzzentrums Öffentliche IT am Fraunhofer FOKUS befragte 86 Projekte, die Herausforderungen in Bereichen wie Arbeit, Wirtschaft, Bildung, Mobilität oder Gesundheit mit digitalen Ansätzen adressieren (mehr zur Methodik in Kapitel 4 der Studie):

Bürger:innen graben in Eigenarbeit Breitbandanschlüsse für ihre Dörfer oder gründen lokale Non-Profit-Netzgesellschaften. Coworking Spaces und Fablabs bieten optimale Arbeitsumgebungen für IT-nahe Aktivitäten. Regionale Online-Plattformen helfen bei der intelligenten Reiseplanung über verschiedene Verkehrsmittel hinweg, vermitteln Job- und Bildungsangebote in der Region und zeigen lokale Warenanbieter auf. Carsharing- und Mitfahrplattformen erleichtern die persönliche Mobilität auch ohne eigenes Auto, während Telemedizin, Teleapotheken, digitale Verwaltungsangebote und E-Learning Fahrtwege gänzlich einsparen können. An innovativen Ideen für “Tech4Good” in ländlichen Räumen mangelt es also nicht.

Disruptive Kraft digitaler Lösungsansätze

Am ehesten erfährt man von den sprießenden Digitalprojekten in ländlichen Räumen aus ihren vollmundigen Ankündigungen, die oft von einem Glauben an die disruptive Kraft der Digitalisierung geprägt sind. Warum sollte das Internet Herausforderungen, an denen sich Politik und Zivilgesellschaft ländlicher Räume seit Jahrzehnten die Zähne ausbeißen, nicht ebenso hinwegfegen, wie es in anderen Bereichen schon längst geschehen ist?

Wo früher aufwendige Recherchen in Bibliotheken und Archiven notwendig waren, reicht heute ein Knopfdruck, um auf das Wissen des Planeten in Millisekunden zuzugreifen. Während Kund:innen beim Shopping früher den besten Preis mühselig durch persönliches Vergleichen ermitteln mussten, bieten heute zahlreiche Vergleichsportale scheinbar vollständige Transparenz. Videotheken und Plattenläden sind schon lange durch Streamingportale ersetzt. Beispiele für solche digitale Disruptionen ziehen sich durch nahezu alle Branchen.

Auf ländliche Räume bezogen ließe sich diese Sicht überspitzt so darstellen: Rückbau des öffentlichen Personennahverkehrs? Dafür gibt es eine App! Der letzte Einzelhändler im Umfeld schließt? Gibt’s da nicht einen Online-Shop? Zum Arzt musst du in die nächste Kreisstadt? Schon mal Diagnose per Videochat probiert?

Ganz abwegig ist dies nicht. Das Internet bietet ungekannte Möglichkeiten, um Kommunikations- und Koordinationsprobleme unter vielen, gerade auch räumlich weit verteilten Menschen zu lösen. Ob digitale Kommunikation und Datenübertragung Wege ersetzen, etwa bei der Telearbeit, oder digital vermittelte Selbstorganisation der Bürger:innen zentrale Stellen überflüssig macht – digitale Werkzeuge können Transaktionskosten massiv senken.

Reality Check

Die ÖFIT-Befragung, die wir Mitte 2019 durchgeführt haben, richtet den Blick daher ganz bewusst jenseits der pressewirksamen Projekteinweihungen und hakt bei laufenden und abgeschlossenen Projekten nach, um ihre Erfolge und Erfahrungen unter die Lupe zu nehmen. Dabei wird deutlich, dass zu wirksamem „Tech4Good“ in ländlichen Räumen mehr gehört als eine schicke App oder eine hübsche Internetseite.

Zwar gibt fast ein Drittel der befragten Projekte an, dass sie positives Feedback zu ihren digitalen Lösungsansätzen erhalten haben, und fast ein Viertel verweist auf hohe Teilnehmendenzahlen als Beweis ihres Erfolgs. Betrachtet man jedoch die Entwicklung der durch das Projekt adressierten gesellschaftlichen Herausforderungen, so zeichnen die befragten Projekte ein ernüchterndes Bild: In über der Hälfte der Fälle sind die Herausforderungen unverändert geblieben, bei nahezu jedem fünften Fall haben sie sich seit Beginn des Projekts sogar verschärft.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass digitale Lösungsansätze zwar einen wichtigen Beitrag zur Lebensqualität in ländlichen Räumen leisten, die zugrundeliegenden Herausforderungen aber nicht „per App“ lösen können.

Projekte scheitern am Sozialen

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass der Erfolg solcher Projekte weniger an der technischen Innovation als an ihrer sozialen Einbettung hängt:

Beispielsweise haben in einigen Regionen Deutschlands Ehrenamtliche und Unternehmen Ridesharing-Dienste aufgebaut, die Mitfahrgelegenheiten vermitteln. Obwohl diese Dienste stets positive Resonanz aus Medien und Politik erhalten, scheitern die meisten nach wenigen Jahren, wie etwa die Berichte  „Warum nicht mitfahren?“ und „Gut finden oder mitmachen? Erkenntnisse regionaler Mitfahrinitativen“ eindrucksvoll dokumentieren. Bei genauerem Hinsehen mangelt es meist nicht an Autohalter:innen, die Mitfahrgelegenheiten anbieten, sondern an Fahrgästen, die mitgenommen werden wollen. Ist die Anbahnung zu umständlich? Ist es den Menschen peinlich, auf die “Hilfe” anderer angewiesen zu sein? Ist technisch gestütztes Trampen besonders mobilitätseingeschränkten Zielgruppen wie Jugendlichen und Senior:innen zu gefährlich? Vermutungen gibt es einige und kaum eine hat mit der eingesetzten technischen Lösung zu tun. Vorwiegend analog gestaltete ehrenamtliche Initiativen wie “Mitfahren in Märkisch Oderland” waren ebenso erfolglos wie flinc, eine kommerziell betriebene überregionale Mitfahr-App.

Beliebt sind auch Projekte, die Nachbarschaftshilfe digital vermitteln. Neben dem Marktführer nebenan.de, der vor allem in Großstädten erfolgreich ist und nun in Kooperation mit der Diakonie versucht, verstärkt ländliche Räume zu erschließen, bestehen zahlreiche kleinere und lokale Angebote wie das Anpacker-Portal der Caritas, der DorfFunk des Fraunhofer IESE oder meinDorf55+ für ältere Menschen im Nassauer Land. Auch bei solchen Angeboten fällt die eher mäßige Nutzung der Dienste auf. Projektbeteiligte berichten einerseits, dass Angebote zum Teil am lokalen Bedarf vorbei konzipiert worden sind. Andererseits sei oft viel und langfristige Arbeit vor Ort notwendig, um einen solchen Dienst zu etablieren und zu bespielen. Dieses Feedback aus der Praxis scheint ganz klar im Widerspruch zu den Versprechungen grenzenloser Skalierbarkeit zu stehen, die oft mit digitalen Lösungen verbunden werden.

Der menschliche Faktor entscheidet

Wenn wir bei „Tech4Good“also die technische Lösung ins Zentrum stellen, erreichen wir wenig. Viel entscheidender für die Umsetzung ist der menschliche Faktor: Wie überzeugen wir Menschen, den Dienst zu nutzen? Wie begeistern wir Ehrenamtliche, bei Mitmachangeboten teilzunehmen? Wie gewinnen wir die Unterstützung der Gemeindeverwaltung und anderer lokaler Akteure?

In der ÖFIT-Studie wurden die Projekte nach den Erfolgsfaktoren für Digitalprojekte in ländlichen Räumen gefragt. Am häufigsten genannt wurden dabei ein gutes Management der beteiligten Akteursgruppen, die Bildung eines schlagkräftigen Projektkonsortiums und ein fähiges und engagiertes Projektteam.

Erfolgsfaktoren nach Nennung durch die befragten Projekte

Nach den Umsetzungsschwierigkeiten gefragt, zeigt sich, dass hier hingegen Finanzierungsfragen sowie bei ehrenamtlichen Projekten die Überlastung der Freiwilligen dominieren. Dies verdeutlicht, dass digitale Lösungen eher nicht als der kostengünstige Ersatz für rückgebaute Dienstleistungen dienen können, für den sie bisweilen gehalten werden.

Schwierigkeiten nach Nennung durch die befragten Projekte, unterschieden nach lokal oder überregionaler Initiierung.

Fazit

Digitale Lösungen können bei der Versorgung ländlicher Räume mit Dienstleistungen einen innovativen Beitrag leisten. Dass sie die Bedarfe ländlicher Räume – wie oft erhofft – vollständig und weitgehend kostenlos decken können, ist aber unwahrscheinlich. Zudem zeigt sich, dass weniger die technische Lösung als vielmehr die zugrundeliegende soziale Innovation und ihre nachhaltige Umsetzung durch Menschen vor Ort entscheidend ist, um mit digitaler Technologie Gutes für ländliche Räume zu leisten.


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